Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab

Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav  Schwab


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den Weg in des Königes Halle, obgleich dieser abwesend war. Die

       Gemahlin des Fürsten Menelaos empfing ihn mit der Gastfreundschaft, welche sie dem Fremden,

       und mit der Auszeichnung, welche sie dem Königssohne schuldig war. Da betörte seine Saitenkunst,

       sein einschmeichelndes Gespräch und die heftige Glut seiner Liebe das unbewachte Herz der Königin.

       Als Paris ihre Treue wanken sah, vergaß er den Auftrag seines Vaters und Volkes, und nur das

       trügerische Versprechen der Liebesgöttin stand vor seiner Seele. Er versammelte seine Getreuen, die

       bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute,

       in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hilfe auszuführen gedachte. Dann stürmte er den

       Palast, bemächtigte sich der Schätze des griechischen Fürsten und entführte die schöne Helena, die

       widerstrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Insel und seiner Flotte folgte.

       Als er mit seiner reizenden Beute auf der See durch das Ägäische Meer schwamm, überfiel die

       eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windstille: vor dem Königsschiffe, das den Räuber mit der Fürstin

       trug, teilte sich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub sein schilfbekränztes Haupt mit den

       triefenden Haar‐ und Bartlocken aus der Flut empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in

       das Wasser geheftet schien, das wiederum selber einem ehernen Walle glich, der sich um die Rippen

       des Fahrzeugs aufgeworfen hatte, seine fluchende Wahrsagung zu: »Unglücksvögel flattern deiner

       Fahrt voran, verwünschter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verschworen,

       deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamos zu zerreißen! Wehe mir, wieviel Rosse, wieviel

       Männer erblicke ich! Wie viele Leichen verursachst du dem dardanischen Volke! Schon rüstet Pallas

       ihren Helm, ihren Schild und ihre Wut! Jahrelang dauert der blutige Kampf, und den Untergang

       deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll ist, wird

       griechischer Feuerbrand die Häuser Trojas fressen!«

       So prophezeite der Greis und tauchte wieder in die Flut. Mit Entsetzen hatte Paris zugehört; als aber

       der Fahrwind wieder lustig blies, vergaß er bald im Arm der geraubten Fürstin der Weissagung und

       legte mit seiner ganzen Flotte vor der Insel Kranaë vor Anker, wo die treulose und leichtsinnige

       Gattin des Menelaos ihm jetzt freiwillig ihre Hand reichte und das feierliche Beilager gehalten wurde.

       Da vergaßen beide Heimat und Vaterland und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange Zeit in

       Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis sie nach Troja aufbrachen.

       Die Griechen

       Die Versündigung, die sich Paris als Gesandter zu Sparta gegen Völkerrecht und Gastrecht hatte

       zuschulden kommen lassen, trug im Augenblick ihre Früchte und empörte gegen ihn ein bei dem

       Heldenvolke der Griechen alles vermögendes Fürstengeschlecht. Menelaos, König von Sparta, und

       Agamemnon, sein älterer Bruder, König von Mykene, waren Nachkommen des Tantalos, Enkel des

       Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an hohen wie an verruchten Taten reichen Stamme; diesen

       beiden mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta die meisten Staaten des

       Peloponneses, und die Häupter des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet. Als daher die

       Nachricht von dem Raube seiner Gattin Helena den König Menelaos bei seinem greisen Freunde

       Nestor zu Pylos traf, eilte der entrüstete Fürst zu seinem Bruder Agamemnon nach Mykene, wo

       dieser mit seiner Gemahlin Klytämnestra, der Halbschwester Helenas, regierte. Der teilte den

       Schmerz und den Unwillen seines Bruders; doch tröstete er ihn und versprach, die Freier Helenas

       ihres Eides zu gemahnen. So bereisten die Brüder ganz Griechenland und forderten seine Fürsten zur

       Teilnahme an dem Kriege gegen Troja auf. Die ersten, die sich anschlossen, waren Tlepolemos, ein

       berühmter Fürst aus Rhodos, ein Sohn des Herakles, der sich erbot, neunzig Schiffe zu dem Feldzuge

       gegen die trügerische Stadt Troja zu stellen; dann Diomedes, der Sohn des unsterblichen Helden

       Tydeus, der mit achtzig Schiffen die mutigsten Peloponnesier der Unternehmung zuzuführen

       versprach. Nachdem die beiden Fürsten mit den Atriden zu Sparta Rat gepflogen, erging die

       Aufforderung auch an die Dioskuren oder Zeussöhne Kastor und Pollux, die Brüder Helenas. Diese

       aber waren schon auf die erste Nachricht von der Entführung ihrer Schwester dem Räuber

       nachgesegelt und bis zur Insel Lesbos, ganz nahe an die trojanische Küste, gekommen; dort ergriff ein

       Sturm ihr Schiff und verschlang es. Die Dioskuren selbst verschwanden; aber die Sage versicherte, sie

       seien nicht in den Wellen umgekommen, sondern ihr Vater Zeus habe sie als Sternbilder an den

       Himmel versetzt, wo sie als Beschirmer der Schiffahrt und Schutzgötter der Schiffahrenden ihr

       sorgenvolles Amt von Zeitalter zu Zeitalter verwalten. Indessen erhub sich ganz Griechenland und

       gehorchte der Aufforderung der Atriden; zuletzt waren nur zwei berühmte Fürsten noch zurück. Der

       eine war der schlaue Odysseus aus Ithaka, der Gemahl Penelopes. Dieser wollte sein junges Weib

       und seinen zarten Knaben Telemachos der treulosen Gattin des Spartanerköniges zuliebe nicht

       verlassen. Als daher Palamedes, der Sohn des Fürsten Nauplios aus Euböa, der vertraute Freund des

       Menelaos, mit dem Sparterfürsten zu ihm kam, heuchelte er Narrheit, spannte zu dem Ochsen einen

       Esel an den Pflug und pflügte mit dem seltsamen Paare sein Feld, indem er in die Furchen, die er zog,

       statt des Samens Salz ausstreute. So ließ er sich von beiden Helden treffen und hoffte dadurch von

       dem verhaßten Zuge freizubleiben. Aber der einsichtsvolle Palamedes durchschaute den

       verschlagensten aller Sterblichen, ging, während Odysseus seinen Pflug lenkte, heimlich in seinen

       Palast, brachte seinen jungen Sohn Telemachos aus der Wiege herbei und legte diesen in die Furche,

       über die Odysseus eben hinwegackern wollte. Da hob der Vater den Pflug sorgfältig über das Kind

       hinweg und wurde von den laut aufschreienden Helden seines Verstandes überwiesen. Er konnte

       sich jetzt nicht länger mehr weigern, an dem Zuge teilzunehmen, und versprach, die bitterste

       Feindschaft gegen Palamedes in seinem listigen Herzen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den

       Nachbarinseln dem Könige Menelaos zur Verfügung zu stellen.

       Der andere Fürst, dessen Zustimmung noch nicht erfolgt, ja dessen Aufenthalt man nicht einmal

       kannte, war Achill, der junge, aber herrliche Sohn des Peleus und der Meeresgöttin Thetis. Als dieser

       ein neugebornes Kind war, wollte seine unsterbliche Mutter auch ihn unsterblich machen, steckte

       ihn, von seinem Vater Peleus ungesehen, des Nachts in ein himmlisches Feuer und fing so an zu

       vertilgen, was vom Vater her an ihm sterblich


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