Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil. Gustav Schwab
der Begleiter des kranken Helden fing an, sich durch das ganze Heer zu verbreiten,
welches fürchtete, daß der wunde Philoktetes das Lager von Troja verpesten und den Griechen mit
seiner endlosen Wehklage das Leben verbittern möchte. Deswegen faßten die Anführer des Volkes
den grausamen Entschluß, als sie an der wüsten und unbewohnbaren Küste der Insel Lemnos
vorüberfuhren, den armen Helden hier auszusetzen, und bedachten dabei nicht, daß sie mit dem
tapfern Manne sich zugleich seiner unüberwindlichen Geschosse beraubten. Der schlaue Odysseus
erhielt den Auftrag, diesen hinterlistigen Anschlag zu vollführen; er lud den schlafenden Helden sich
auf, fuhr mit ihm in einem Nachen an den Strand und legte ihn hier unter einer nahen Felsengrotte
nieder, nachdem er so viel Kleidungsstücke und Lebensmittel zurückgelassen hatte, als zur
kümmerlichen Fristung seines Lebens für die nächsten Tage nötig waren. Das Schiff hatte am Strande
nur so lange angehalten, als es Zeit bedurfte, den Unglücklichen auszusetzen: dann segelte es, sobald
Odysseus zurückgekehrt war, weiter und vereinigte sich bald wieder mit dem übrigen Zuge.
Die Griechen in Mysien. Telephos
Die griechische Flotte kam jetzt glücklich an die Küste von Kleinasien. Da aber die Helden der Gegend
nicht recht kundig waren, ließen sie sich von dem günstigen Winde zuerst ferne von Troja an die
mysische Küste treiben und legten sich mit allen ihren Schiffen vor Anker. Längs des Gestades fanden
sie zur Bewachung des Ufers allenthalben Bewaffnete aufgestellt, die ihnen im Namen des
Landesherrn verboten, dies Gebiet zu betreten, bevor dem Könige gemeldet wäre, wer sie seien. Der
König von Mysien war aber selbst ein Grieche, Telephos, der Sohn des Herakles und der Auge, der
nach wunderbaren Schicksalen seine Mutter bei dem Könige Teuthras in Mysien antraf, dessen
Königes Tochter Argiope zur Gemahlin erhielt und nach des Tode König der Mysier geworden war.
Die Griechen, ohne zu fragen, wer der Herr des Landes wäre, und ohne den Wächtern eine Antwort
zu erteilen, griffen zu den Waffen, stiegen ans Land und hieben die Küstenwächter nieder. Wenige
entrannen und meldeten dem Könige Telephos, wieviel tausend unbekannte Feinde in sein Land
gefallen wären, die Wachen niedergemetzelt hätten und sich jetzt im Besitze des Ufers befänden.
Der König sammelte in aller Eile einen Heerhaufen und ging den Fremdlingen entgegen. Er selbst war
ein herrlicher Held und seines Vaters Herakles würdig, hatte auch seine Kriegsscharen zu griechischer
Heereszucht gebildet. Die Danaer fanden deswegen einen Widerstand, wie sie ihn nicht erwartet
hatten; denn es entspann sich ein blutiges und lange unentschiedenes Treffen, in welchem sich Held
mit Helden maß. Unter den Griechen tat sich in der Schlacht besonders Thersander hervor, der Enkel
des berühmten Königes Ödipus und Sohn des Polyneikes, der vertraute Waffengenosse des Fürsten
Diomedes, der schon als Epigone sich berühmt gemacht hatte. Dieser raste in dem Heere des
Telephos mit Mord und erschlug endlich den geliebtesten Freund und ersten Krieger des Königes an
seiner Seite. Darüber entbrannte der König in Wut, und es entspann sich ein grimmiger Zweikampf
zwischen dem Enkel des Ödipus und dem Sohne des Herakles. Der Heraklide siegte, und Thersander
sank, von einem Lanzenstiche durchbohrt, in den Staub. Laut seufzte sein Freund Diomedes auf, als
er dies aus der Ferne sah, und ehe der König Telephos sich auf den Leichnam werfen und ihm die
Rüstung abziehen konnte, war er herzugesprungen, hatte sich den Leichnam des Freundes über die
Schultern gelegt und eilte mit Riesenschritten, ihn aus dem Kampfgewühle zu tragen. Als der Held
mit seiner Last fliehend an Ajax und Achill vorüberkam, durchfuhr auch diese Helden ein
schmerzlicher Zorn, sie sammelten ihre wankenden Scharen, teilten sie in zwei Haufen und gaben
durch eine geschickte Schwenkung dem Treffen eine andere Gestalt. Die Griechen waren jetzt bald
wieder im Vorteil; Teuthrantios, der Halbbruder des Telephos, fiel, von einem Geschosse des Ajax
getroffen; Telephos selbst, in der Verfolgung des Odysseus begriffen, wollte dem sinkenden Bruder
zu Hilfe kommen, strauchelte aber über einen Weinstock: denn durch die Geschicklichkeit der
Griechen waren die kämpfenden Scharen der Feinde in eine Weinpflanzung gelockt worden, in der
die Stellung der Danaer die günstigere war. Diesen Augenblick ersah sich Achill, und während
Telephos vom Falle sich erhob, durchbohrte ihm der Wurfspieß des Peliden die linke Weiche. Er
richtete sich dennoch auf, zog das Geschoß aus der Seite, und durch den Zusammenlauf der Seinigen
beschirmt, entging er weiterer Gefahr. Noch lange hätte das Treffen mit abwechselndem Glücke
fortgedauert, wenn nicht die Nacht eingebrochen wäre und beide Teile, der Ruhe bedürftig, sich von
dem Kampfplatze zurückgezogen hätten. Und so begaben sich die Mysier nach ihrer Königsstadt, die
Griechen nach ihrem Ankerplatze zurück, nachdem von beiden Seiten viele tapfere Männer gefallen,
viele verwundet waren. Am folgenden Tage schickten beide Teile Gesandte wegen eines
Waffenstillstandes, damit die Leiber der Gefallenen zusammengesucht und begraben werden
könnten. Jetzt erst erfuhren die Griechen zu ihrem Staunen, daß der König, der sein Gebiet so
heldenmütig verteidigt habe, ihr Volksgenosse und der Sohn ihres größten Halbgottes sei, und
Telephos ward mit Schmerzen inne, daß ihm Bürgerblut an den Händen klebe. Nun fand es sich auch,
daß im griechischen Heere drei Fürsten waren, Tlepolemos, ein Sohn des Herakles, Pheidipp und
Antiphos, Söhne des Königes Thessalos und Enkel des Herakles, alle drei also Verwandte des Königes
Telephos. Diese nun erboten sich, im Geleite der mysischen Gesandten vor ihren Bruder und Vetter
Telephos zu gehen und ihm näher zu berichten, wer die Griechen seien, die an seiner Küste gelandet,
und in welcher Absicht sie nach Asien kämen. Der König Telephos nahm seine Verwandten liebreich
auf und konnte sich nicht genug von ihnen erzählen lassen. Da erfuhr er, wie Paris mit seinem Frevel
ganz Griechenland beleidigt hatte und Menelaos mit seinem Bruder Agamemnon und allen
verbündeten Griechenfürsten aufgebrochen sei. »Darum«, sprach Tlepolemos, der als ein leiblicher
Halbbruder des Königes für die übrigen das Wort führte, »lieber Bruder und Landsmann, entzeuch
dich deinem Volke nicht, für das ja auch unser lieber Vater Herakles an allen Orten und Enden der
Welt gestritten, von dessen Vaterlandsliebe ganz Griechenland unzählige Denkmale aufzuweisen hat;
heile die Wunden wieder, die du, ein Grieche, Griechen geschlagen hast, indem du deine Scharen mit
den unsrigen vereinigst und als unser Verbündeter gegen das meineidige Trojanervolk ziehest.«
Telephos richtete sich von