Spurlos. Manuela Martini
hätten jemanden benachrichtigen können, Detective. Sie benutzen doch sicher so wie ich, auch hin- und wieder ein – wie nennt man das Ding, das man inzwischen überall mit herumtragen kann? – Handy, nicht wahr?“
„Einspruch, Euer Ehren, das …“ Der Versuch des Staatsanwaltes scheiterte kläglich. Eine Handbewegung des Richters ließ ihn verstummen. „Einspruch abgelehnt, fahren Sie fort, Mrs. Winger, aber ersparen Sie uns Ihre Polemik.“
„Ja, Euer Ehren. Danke.“
Die Assistentin, die neben Winger stand, in schwarzen langen Hosen und weißer, konservativer Bluse, beugte sich zu ihrer Chefin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf diese nickte. Die Assistentin drückte einen Ordner an sich und ging auf ihren hohen Schuhen mit schnellen, bestimmten Schritten zum Ausgang. Sie glich ihrer Chefin in auffallender Weise: schulterlanges, dunkles, glattes Haar, blasse Haut, blaue Augen. Shane war sicher, Alex Winger war eine verdammte Narzistin.
„Detective O’Connor“, fuhr Winger fort, „Sie haben seit einem Jahr gesundheitliche Probleme. Sie wurden bei einer Schießerei, verletzt.“
Was sollte das jetzt?
„Ja.“
„Damals wurde Ihr langjähriger Partner erschossen. Sie überlebten. Ihr Bein, Ihr Arm sind noch immer nicht wieder vollständig in Ordnung.“
Er antwortete nicht. Es war keine Frage. Es war eine Tatsache.
„Nicht nur Ihre psychische Verfassung hat gelitten, auch Ihre körperliche.“
Wieder antwortete er nicht, dachte an seine Schmerztabletten und seine Narben. Der Staatsanwalt starrte ihn ausdruckslos an. Shanes Wut wuchs. Er hatte einen Mörder und Dealer gestellt, warum stahlen sie seine Zeit?
„Detective O’Connor, könnte man annehmen, dass Sie infolge Ihrer psychischen und körperlichen Situation heftiger und aggressiver reagiert haben?“ Ihre Stimme hatte einen mitfühlenden Unterton bekommen.
Nein, so billig war er nicht zu haben. Sein Puls lag sicher bei 90, er fühlte sein Blut kochen, und seine Schläfen pochten, aber er hielt sich unter Kontrolle.
„Meine Verletzungen sind so gut wie auskuriert. Ich hätte auch vor Jahren in diesem Fall nicht anders gehandelt. Es ging darum, den Mörder zu fassen, ihn an einer Flucht zu hindern. Und das ist uns gelungen.“
Den Punkt hatte er gemacht.
„Mit wir“, fuhr die Anwältin unbeeindruckt fort während sie das Schreiben überflog, „meinen Sie: sich selbst und Detective Tamara Thompson.“
„Korrekt.“ Seine Partnerin war im Moment bei einer Fortbildung in London und bereits per Videokonferenz im Verhandlungsraum befragt worden. Shane warf einen Blick schräg hinter sich auf die Jury: Ein Haufen nachlässig gekleideter Männer und Frauen, die in drei Reihen auf der dem Angeklagten gegenüberliegenden Seite des Raums saßen. Einige von ihnen unterhielten sich leise miteinander. Von den elf Personen erweckten nur vier den Eindruck, sich ihrer Rolle und Aufgabe bewusst zu sein. Mindestens zwei hätten Junkies sein können: Ausgemergelte Gestalten mit farblosem, dünnen Haar und dürren Beinen in abgetragenen Shorts.
Der Richter lehnte sich ein wenig nach vorn.
„Sofort, Euer Ehren!“ Alex Winger blätterte überraschend nervös in einem Schnellhefter.
Der Staatsanwalt hatte den Blick auf seine Unterlagen konzentriert, zog dabei an den weiten Ärmeln seiner Robe, und schob sich die gelockte Perücke aus der Stirn. Die breite Tür aus dunklem Holz öfffnete sich, Wingers Assistentin kam zurück. Der strapazierfähige dunkelrote Teppich schluckte das Geräusch ihrer hart aufsetzenden Absätze. Sie gab ihrer Chefin ein Papier.
„Mrs. Winger …?“
„Entschuldigen Sie, Euer Ehren!“ Tatsächlich war sie für Sekunden aus der Ruhe gebracht worden, doch jetzt sah sie auf, nahm ihre Brille ab.
„Detective O’Connor, vor fünf Jahren“, begann sie dann langsam und musterte ihn arrogant, „haben Sie einen Journalisten angegriffen und ihm ins Gesicht geschlagen. Korrekt?“
Er holte Luft. Beruhige dich, sagte er sich, sonst hat sie dich genau da, wo sie dich haben will.
„Einspruch!“ Der Staatsanwalt sprang auf als sei er plötzlich aus einem Traum erwacht, doch der Richter sagte nur gelangweilt, „Einspruch abgelehnt, fahren Sie fort, Mrs. Winger!“
„Danke, Euer Ehren. Sie haben ihm also ins Gesicht geschlagen.“ Der kühle Blick der Anwältin ließ nicht von ihm ab.
„Es gab eine Vorgeschichte, er hatte …“
„Sie haben ihm ins Gesicht geschlagen, korrekt?“ Ihr Ton wurde schärfer. Er kapitulierte.
„Korrekt.“
„In diesem Fall war weder Gefahr im Verzug noch hatte der Journalist jemanden getötet oder hatte dies vor. Richtig?“
Er nickte. Ein kaum merkliches Zucken ihres Mundwinkels verriet ihren Triumph. Sie hatte ihn endlich da, wo sie ihn haben wollte: auf dem Boden. Nun musste sie nur noch wie ein Jäger den Fuß auf die erlegte Beute stellen.
„Detective O`Connor“, sie setzte ihre Lesebrille ab, und sah ihm in die Augen. Komm’ schon, dachte er, komm’ schon, bringen wir’s hinter uns. Versetz’ mir den Todesstoß!
Sie lächelte mitfühlend.
„Sie haben im Grunde selbst eingesehen, dass Sie den Anforderungen physisch und psychisch nicht mehr gewachsen sind.“ Sie ließ die Akte sinken. „Sie haben genau zwei Wochen nach der Festnahme meines Mandanten Ihre vorzeitige Entlassung aus dem Polizeidienst eingereicht.“ Sie genoss die plötzliche Aufmerksamkeit aller im Raum befindlichen Menschen. „Das ist doch korrekt, oder?
Sie hatte ihn erlegt. Er war tot. „Das ist doch korrekt, oder?“, wiederholte sie. Er nickte endlich, nahm sich zusammen, und sagte so klar wie möglich: „Das ist korrekt, ja.“
„Sie sind nur noch“ sie sah auf ihre Notizen, „ja, Sie sind noch genau sieben Tage Detective der Homicide Squad Queensland. Und dann“, ihr Lächeln wurde intensiver, er konnte ihren Anblick kaum noch ertragen. Er zwang sich, den Blick nicht abzuwenden. Nein, diesen Triumph wollte er ihr nicht auch noch gönnen. Er wollte mit offenen Augen sterben.
„Und dann“, fuhr sie fort, „sind Sie Pensionär. Frührentner, ist das richtig?“
„Ja, das ist richtig.“ Er hatte versucht, so emotionslos wie möglich zu antworten. Er hoffte, es war ihm einigermaßen gelungen.
Ihr zufriedenes Nicken, ihr triumphales Lächeln - dann Schluss.
„Danke, Detective. Keine weiteren Fragen.“
Auch der Staatsanwalt hatte keine weiteren Fragen, und Shane durfte den Zeugenstand verlassen. Als Shane heute Morgen in Darwin angekommen war, hatte ihn der Staatsanwalt auf die Anwältin vorbereitet. Er hatte nicht untertrieben.
Geschlagen aber irgendwie erleichtert stieß Shane die schwere Holztür des Gerichtssaals auf und atmete durch als sie sich hinter ihm schloss, und er im großen, lichtdurchfluteten Foyer stand.
Oft hatte er in seinem Berufsleben vor Gericht aussagen müssen, und er hasste es noch genauso wie am Anfang. Nicht selten musste man sich von arroganten Anwälten wie der letzte Dreck behandeln lassen. Doch das war sein vorletzter oder vielleicht letzter Auftritt gewesen. Morgen würde er zurück nach Brisbane fliegen, und in einer Woche wäre er kein Detective mehr. Dann konnten sie ihn alle mal.
4
Auf den Sitzgruppen vor der holzgetäfelten, breiten Tür des Gerichtssaals hockten zusammengesunken zwei Aborigines und schliefen. Die Präsenz der Aborigines im Stadtbild Darwins war deutlich stärker als in Brisbane, das fiel Shane jedes Mal auf, wenn er nach Darwin kam. Inzwischen beanspruchten die Aborigines 90 Prozent des gesamten Northern Territory als ihr Land. Hier