Spurlos. Manuela Martini

Spurlos - Manuela Martini


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Touristenmagnet für all die zivilisationsmüden Europäer und Amerikaner darstellte, die die romantische Vorstellung von der Existenz des „edlen Wilden“ mit verzweifeltem Trotz verteidigten.

      Shane stützte sich auf das Geländer, das den Durchbruch vom ersten Stock zur Eingangshalle umgab, und betrachtete das Fußbodenmosaik dort unten. Die Milchstraße – aus Tausenden von Keramiksteinchen in verschiedenen Blau- und Grautönen zusammengesetzt. Man hätte den Supreme-Court durchaus für ein Museum halten können: überall waren Kunstwerke auf diesen riesigen, von keinen Säulen verstellten Etagen platziert, an den Stirnseiten gaben große Glasflächen den Blick auf Palmen frei, auf die türkisblaue Arafura-Sea und auf den tropischen Himmel.

      Er war am Morgen durch die Lobby spaziert und hatte sich die Kunstwerke angesehen. Die Totenpfähle der Aborigines von Tiwi-Island, einer Insel, die nur fünfzehn Minuten Flugzeit von Darwin entfernt lag; die großformatigen Dot-Paintings der Tribes aus den Wüstengebieten; die filigranen Abbildungen auf Rindenstücken aus der Region von Arnhem-Land, einige Bilder, die an den bekannten Maler Albert Namatjira erinnerten, des Aborigines, der ins Gefängnis bekommen war, weil er Alkohol gekauft hatte, der angeblich zu einem Totschlag geführt hatte. Namatjira war kurz nach seiner Gefängnisstrafe gestorben. Waren die Bilder hier ein Mahnmal? Die Kunst hier eine Art Wiedergutmachung für all die Grausamkeiten, die die Weißen den Ureinwohnern angetan hatten? Oder fehlte es ganz einfach an einer eigenen Identität? Worauf hätten sich auch all die Griechen und Chinesen einigen sollen, die im 19. und 20. Jahrhundert hier eingetroffen waren, um nach Gold zu suchen, nach Perlen zu tauchen oder Handel zu treiben?

      Ein Sheriff, ein bulliger Typ mit rötlicher Haut und Borstenhaarschnitt, dessen hellblaues Hemd über seinem Bizeps spannte, hielt einen Pappbecher unter den Trinkwasserbrunnen an der Wand zwischen den Türen zweier Gerichtssäle.

      Shane sah auf die Armbanduhr. Kurz nach halb zwölf. Was für eine Zeitverschwendung, hier in Darwin zu sein – fünf Stunden Flugzeit von Brisbane entfernt. Und das alles nur, weil ihn vor Monaten die Jagd nach dem Mörder wenige Kilometer hinter die Grenze Queenslands ins Northern Territory geführt hatte. Er hatte die zuständige Polizei benachrichtigt, doch die Entfernungen waren so groß, dass sie es erst zehn Minuten nach Shanes Aktion eingetroffen waren. Der Fall war klar. Muhammad Solea hatte Cannabis und Kava, das aus einer Wurzel gewonnen wurde und vor allem im südpazifischen Raum als Droge verbreitet war, an Aborigines verkauft. Der Verkauf zu einem festgelegten Preis war bis zu einer bestimmten Menge sogar erlaubt – sofern man eine staatliche Genehmigung dafür besaß. Doch Muhammad besaß keine, verkaufte darüber hinaus zu viel und zu einem höheren Preis. Shane hatte ihn nicht wegen seiner Drogendeals gejagt sondern wegen eines Mordes an einem anderen Dealer. Der Mord war bewiesen. Nun ging es der Verteidigung darum, Verfahrensfehler aufzudecken, um ein milderes Urteil herauszuschinden oder gar das gesamte Verfahren neu aufrollen zu können.

      Das Geräusch einer sich öffnenden Saaltür ließ ihn sich umdrehen.

      „Hi, Shane!“ Er sah eine kleine, kräftige Frau in einem orangefarbenen Sommerkleid winkend auf ihn zukommen. Er erkannte sie sofort: Louise Woolfe, die Rechtsanwältin, die vor Jahren in Brisbane gearbeitet, dann geheiratet und ins Northern Territory gezogen war.

      „Hi Louise!“

      Sie stand mit ihren vollen ein Meter fünfzig vor ihm.

      „Detective O’Connor!“ Lachend boxte sie ihm in die Rippen. Eine Angewohnheit, die sie schon damals in Brisbane gehabt hatte, und die ihr den Spitznamen Nudge eingebracht hatte. „Ich wusste schon, dass du kommst.“ Sie zwinkerte ihm zu, „die Buschtrommeln!“

      Rote, korallenähnliche Ohrringe schaukelten als sie den Kopf zur Seite legte und Shane von oben bis unten musterte. „Und, auf der Jagd?“ Sie zwinkerte wieder und versetzte ihm erneut einen Knuff in die Rippen. „Ich habe gehört, dass die Frau dieses Muhammad Solea regelmäßig nach Nigeria fliegt, mit Bündeln von Bargeld.“

      „Ja, das scheint kaum ein Geheimnis zu sein. Er soll islamische Vereinigungen damit unterstützen – mit dem Geld, das er von den Aborigines bekommt. Das wiederum bekommen sie von unserer Steuer.“

      Sie schüttelte den Kopf. „Und – kriegt ihr ihn dran?“

      „Ja.“ Er nickte. „Obwohl, seine Anwältin ist ein scharfer Hund.“

      Sie lachte laut auf und brachte eine Reihe schiefer Zähne zum Vorschein.

      „Ja! Alex Winger - „The Shark“.

      Er sah ihre kalten Augen vor sich. „Wie passend.“

      „Hast du diese wilde Horde Geschworener gesehen?“ Sie machte eine Bewegung nach links. „Weißt du, ich bin ja auch für lässige Kleidung, aber …“ Sie schüttelte den Kopf und seufzte. „Das ist das Northern Territory, Shane. Ich musste mich erst mal dran gewöhnen. Genauso wie an das permanent schöne Wetter in der Dry-Season und diesen Regen und die schrecklichen Stürme in der Wet-Season. Wann fliegst du zurück?“

      „Morgen Nachmittag.“

      „Ach, schade. Heute Abend hab’ ich keine Zeit, aber morgen. Wir hätten mal wieder einen drauf machen können!“ Sie brachte einen verruchten Augenaufschlag zustande.

      „Was würde dein Mann wohl dazu sagen, Louise?“

      Sie rollte mit den Augen. „Der ist froh, wenn er in Ruhe an seinen Autos rumbasteln kann. Da wir gerade beim Thema sind: was machen Kim und Pam?“

      „Sie wohnen jetzt oben an der Sunshine Coast. Kim hat wieder geheiratet.“ Frank, einen fetten Reifenhändler, hatte er sagen wollen, hielt aber noch rechtzeitig den Mund.

      „Tja. So geht es? Und du?“ Sie knuffte ihm wieder in die Seite und zwinkerte viel sagend. „Nichts Neues in Sicht?“

      „In Sicht schon.“ Er dachte an Carol, die gerade ihre zweite Woche auf Vanuatu verbrachte. Seit einem Jahr verband sie eine lockere Beziehung. Sie lebte an der Sunshine Coast, er in Brisbane. An den Wochenenden, an denen er nicht arbeiten musste, sahen sie sich. Manchmal blieb sie auch ein paar Tage in Brisbane. Sie schmiedeten keine Zukunftspläne. Shane wusste, dass auch Carol Angst davor hatte, sich an jemanden zu binden und Versprechungen zu machen, die sie vielleicht nicht halten könnte,

      „Tja, schade, warum bleibst du nicht länger hier? Abgesehen von diesen Geschworenen ist es gar nicht so übel und noch ist die Wet-Season nicht da.“ Sie griff in ihre aus rotem und orangefarbenem Bast geflochtene Umhängetasche. Pandanus nannte man die Gräser, erinnerte er sich, die von Aborigine-Frauen gesammelt, getrocknet, gefärbt und dann zu Körben und Taschen verarbeitet und inzwischen in Galerien verkauft wurden. „Hier, meine Nummer, wenn du mal wieder hier bist.“ Er nahm die blütenweiße Visitenkarte und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. Louise schien etwas hinter seinem Rücken zu beobachten. Er drehte sich um. Aus dem Gerichtssaal kamen der Staatsanwalt und hinter ihm die Anwältin in ihren schwarzen Roben.

      „Sieht nach Pause aus.“ Louise zog die Augenbrauen hoch. „Ich muss leider los. Eine ziemlich große Betrugssache in der Wasserwirtschaft. Mit eingeflogenen Sachverständigen und allem. Teure Angelegenheit, Saal sechs.“ Sie holte zu einem Knuff aus, überlegte es sich dann aber anders und sagte nur: „Alles Gute! Und es war schön, dich mal wieder zu treffen!“

      Sie ging los, reckte ihren Hals, winkte, worauf sich jemand am anderen Ende der weitläufigen Halle von den Sesseln erhob. Der Mann wollte ihr die Tür öffnen, aber Louise war schneller, und er konnte ihr nur noch folgen und die Tür hinter sich zufallen lassen. Shane glaubte den Mann schon mal irgendwo gesehen zu haben, doch er kam nicht darauf, wo und wann.

      Alex Winger steuerte auf Shane zu. Sie trug lange schwarze Hosen unter ihrer Robe, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht mit der glatten, faltenlosen Haut war genauso hart wie im Gerichtssaal. Dabei war sie keine unattraktive Erscheinung, ganz und gar nicht. Das dunkle Haar und die blauen Augen, der wohlgeformte Mund, die leicht geschwungenen Augenbrauen, der ovale Gesichtsschnitt – all das hätte sie durchaus auch anziehend wirken lassen können, doch sie schien alles daran zu setzen, diesen Eindruck nicht zu erwecken – warum auch immer. Vielleicht, dachte er, glaubte sie, an Autorität zu verlieren,


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