Spurlos. Manuela Martini

Spurlos - Manuela Martini


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      „Schon längst geschehen, aber…“ Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf.

      „Dann kann es ja nicht mehr so lang dauern, oder wohnt sie vielleicht in Alice Springs?“

      „Sie wohnt in Darwin“, sagte der Staatsanwalt ohne die geringste Spur von Humor. „Aber sie ist nicht zu Hause. Und telefonisch ist sie nicht zu erreichen. Ehrlich gesagt, das ist seit drei Jahren noch nie bei ihr vorgekommen.“

      Da war Shane sicher. The Shark hätte sie sofort hinausgeworfen. In diesem Moment sah er hinter dem Rücken des Staatsanwalts Alex Winger aus dem Saal kommen. Sie strahlte dieselbe Unnahbarkeit wie bei der Verhandlung aus. Zwei Meter vor ihnen blieb sie stehen, und Shane fragte sich, ob sie allgemein körperliche Nähe nicht ertragen konnte, oder nur seine nicht.

      „Ich bin sicher, Herr Kollege, es klärt sich auf“, sagte sie und wirkte tatsächlich auf einmal ein wenig unsicher.

      Dieser rang sich ein Lächeln ab. „Sicher. Was ist, kommen Sie runter in die Cafeteria?“

      Sie winkte ab. „Ich muss noch telefonieren.“

      „Was ist mit Ihnen, Detective?“

      Er hatte außer ein paar Tassen Kaffee noch nichts im Magen.

      „Ja, warum nicht.“

      Auf der Treppe kam ihnen schnaufend Louise Woolfe entgegen. „Ich hab’s schon gehört, Valerie Tate ist unauffindbar.“

      Der Staatsanwalt und blieb stehen. „Ja, seltsam.“

      „Hoffentlich ist nichts passiert“, Louise schob den Riemen ihrer Handtasche wieder auf die Schulter als ihr Handy klingelte. „Ja, Mister Hoffman, ich bin schon auf dem Weg.“ Zu Shane sagte sie: „Ich muss los. Meine Sachverständigen erwarten mich. Ich hoffe, wir kommen heute zu einem Abschluss.“

      2

      Auf der schattigen und luftigen Veranda, versunken in den weichen Kissen auf der Rattancouch, die Beine hochgelegt, blätterte Alison die Seite um und warf einen Blick auf ihre Uhr. Halb fünf. Sie versuchte sich zu entspannen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Vor einer Stunde war sie vom Writer’s Center nach Hause gekommen und hatte sich gleich nach den Vorbereitungen für das Barbecue mit ihren Eltern in Brett Horkays Buch vertieft. Obwohl der Ventilator über ihr für eine kühle Brise sorgte, kochte sie innerlich. Was hatten sie und Matthew nur falsch gemacht? Sie ließ ihren Blick über die Veranda mit den Oleandern gleiten, über denen der von Prudence gebastelte Drache baumelte, dann hinüber zu den Baumwipfeln deren Grün im Spätmittagslicht noch intensiver leuchtete. Die Luft roch süß nach Blüten und vibrierte von Vogelstimmen. Lebten sie nicht im Paradies? Ihnen fehlte es nicht an Geld, sie waren gesund, und damals, vor 18 Jahren hatten sie doch aus Liebe geheiratet. Etwas war ihnen auf dem Weg durch die Jahre abhanden gekommen. Das Interesse füreinander? Dankbarkeit? Gegenseitiger Respekt und Achtung?

      Gestern hatte sie vielleicht einen Fehler begangen. Sie hätte zuerst mit Matthew anstatt mit Valerie Tate reden sollen. Sie klappte das Buch zu. Der Abend hatte ihr gefallen – und sie danach in noch größeren Schmerz gestürzt, als ihr klar wurde, wie ihr Leben verlief. Brett war kaum älter als sie, doch was hatte er alles erlebt? Womit hatte er sich beschäftigt? Durch die Welt war er gereist, hatte die entlegensten Orte besucht, sich mit Menschen, ihren Traditionen, ihrer Religion beschäftigt, hatte Sprachen gelernt und erforscht. Irgendwann am Abend, die drei Freunde, die Meg noch eingeladen hatte, waren gegangen, und nur noch Meg und … und Brett und Alison waren übrig geblieben, da hatte sich Alison nicht länger zurückhalten können und hatte von Matthews Betrug angefangen. Es hatte gut getan, Freunden das Herz ausschütten zu können, und Brett hatte ihr daraufhin eines seiner Bücher mitgegeben. Den ganzen Abend lang hatte er keine Flirtversuche unternommen, und dafür war sie ihm dankbar. Es hätte sie in einen schrecklichen Konflikt gestürzt.

      Ihr Leben war immer begrenzter geworden. Diese Einsicht war ihr gestern ganz plötzlich gekommen. Sie musste an die Mutter einer Bekannten denken. Diese war am Grünen Star erkrankt. Zuerst engte sich ihr Blickfeld ein, tunnelartig wurde die Sicht mit grauen, dann immer dunkleren Rändern. War ihr Leben nicht auch so geworden? Warum hatte sie das nicht vorher begriffen – bevor Matthew Konsequenzen – seine Konsequenzen gezogen hatte?

      Unsere Welt ist viel größer, Alison, hatte Brett Horkay ihr zum Abschied gesagt, und es hatte sie getröstet. Doch als sie in der Nacht ins leere Haus zurückkam, überfiel sie die Einsamkeit. Matthew hatte wirklich nicht angerufen, und auch keine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Aber ihre Schwester Christine hatte sich gemeldet und den Preis genannt: „Tausend Dollar, hat Phil gesagt.“ Heute Morgen hatte sie Christine das Geld in einem Umschlag in den Friseursalon gebracht.

      Jetzt ertappte sie sich dabei, dass sie wünschte, Matthew würde auch heute noch nicht zurückkommen. Sie fürchtete sich vor dem Moment, ihm in die Augen zu sehen. Hatte Phil, der ehemalige Cricket-Spieler und wegen Drogenbesitzes und Dealens vorbestrafte Exmann Christines, schon etwas in die Wege geleitet? Hatte Valerie Tate schon mit Matthew Schluss gemacht? Zitterte Valerie Tate schon vor Angst? Alison seufzte. Nein, ganz wohl war ihr bei der Sache nicht.

      Sie sah auf die Uhr. Sollte sie nicht ihre Eltern anrufen und die Einladung verschieben? Heute war es wirklich unpassend. Die Steaks könnte sie einfrieren und über die beiden Salate hatte sie noch kein Dressing gegeben, man könnte sie auch morgen essen.

      Motorengeräusch näherte sich, klang dann wieder ab. Das Blau des Himmels wurde tiefer, während alle anderen Farben verblassten. Wie sollte – wie konnte sie Matthew überhaupt gegenübertreten? Die Zuversicht von gestern war vollkommen dahin.

      Wieder ein Motorengeräusch. Sie erkannte das tiefe, volle Tuckern des Porsche 911. Es schwoll an – und entfernte sich nicht mehr, sondern erstarb. Dann: das satte Klicken der sich öffnenden Tür, das kurze Klack, als sie zugeworfen wurde, schnelle Schritte. Die Holztreppe, die hinter ihrem Rücken von unten heraufführte, vibrierte leicht.

      Eins, zwei, drei, vier …es waren zwölf Stufen, zehn, elf – sie wandte ihren Kopf – sah ihm in die Augen und erwischte den letzten Moment, bevor er ein gezwungenes Lächeln aufsetzte.

      Was sah er eben in ihrem Blick? Empfand auch er diese Angst, alles verloren zu haben, und mit einem Fremden zusammen zu leben?

      Er schaltete sein gutgelauntes, siegesgewisses Lächeln an, wie er es gegenüber Geschäftskunden tat, deren Aufträge er nicht verlieren wollte. Sie lächelte zurück. Welche Lügen! Welche Feigheit!

      „Hallo Liebling!“ Er beugte sich in jahrelang einstudierter Bewegung zu ihr über die Rückenlehne hinunter, und sie hielt ihm ihre Wange hin – schon lange nicht mehr den Mund. Die Begrüßung war zu einem inhaltslosen Ritual verkommen, einer höflichen Pflichterfüllung.

      „Wie war’s in Broome?“, fragte sie.

      „Gut, alles bestens.“ Er drehte sich um, ein neues Lächeln im Gesicht. Nicht mehr ganz so strahlend, ein wenig schimmerte etwas Wahres darunter hervor, doch bevor es durch die Maske dringen konnte, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Barbecue zu. „Ich hab’ ganz vergessen, eine neue Gasflasche zu bestellen. Hoffentlich geht sie nicht mitten beim Grillen aus.“

      „Dann warst du also erfolgreich?“ So schnell wollte sie ihn nicht davon kommen lassen.

      „Ja, ja. Sei mir nicht böse, ich bin etwas erledigt.“

      In diesem Moment empfand sie nur noch Verachtung – und Hass.

      Wie konnte er sie nur so anlügen! Sie kämpfte gegen Tränen der Wut. Nein, diese Blöße, vor ihm zu weinen, ihn anzuschreien, würde sie sich nicht geben.

      Sie schlug ihr Buch auf und sagte beiläufig:

      „Reicht das Gas? Meine Eltern kommen heute zum Dinner.“

      „Schon wieder?“ Sein Lächeln war verschwunden.

      Sie legte das Buch auf den Schoß und sah ihm voll in die Augen.

      „Das


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