Spurlos. Manuela Martini

Spurlos - Manuela Martini


Скачать книгу
ich nicht lache! Hör’ zu, Schwesterherz, es ist mir ehrlich gesagt inzwischen ziemlich egal, was ihr über mich redet, aber du solltest mal die Nachrichten anschalten.“

      „Aber was …“

      „Tu es einfach! Sie fangen in wenigen Sekunden an.“

      Mit dem Hörer am Ohr ging Alison zum Couchtisch, auf dem neben den zwei Stapeln Hochglanzmagazinen die Fernbedienung für den Flachbildschirm lag. Die Sprecherin der Lokalnachrichten wünschte gerade einen guten Abend. Und dann kam es:

      „Heute Nachmittag wurde die Leiche der sechsundzwanzigjährigen Valerie Tate gefunden.“ Nein, sie musste sich verhört haben. Es konnte nicht wahr sein. Bilder von Polizisten in Uniform und Leuten von Spurensicherung in weißen Overalls erschienen auf dem Bildschirm. Von draußen drang das laute Lachen ihres Vaters und das schrille Kichern ihrer Mutter herein.

      „… auf grausamste Art“, sagte ein Sprecher der Polizei. „Jeden, der Valerie Tate kannte oder sie gestern gesehen oder sonstige auffällige Personen beobachtet hat, bitten wir, sich mit der Polizei in Darwin oder jeder anderen Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen.“

      „Alison?“ Jetzt erst realisierte sie den Hörer, den sie noch immer an ihr Ohr gepresst hielt.

      „Alison, bist du noch dran?“

      „Ja.“ Sie hörte wie ihre eigene Stimme zitterte. Noch immer starrte sie in den Fernseher, obwohl schon längst die Bilder einen Palmenstrand und einen gestrandeten Wal zeigten.

      „Hör’ zu“, sagte Christine, „ich hab’ damit nichts zu tun. Es ging nur um Einschüchterung. Das hab ich Phil ganz klar gemacht. – Alison?“

      „Ihr habt also jemanden geschickt …“

      „Du hast doch selbst … Hast du überhaupt verstanden, was ich gerade gesagt habe?“

      Alison schluckte. „Ja, sicher.“ Die Stimme gehörte nicht ihr.

      „Was hab’ ich gesagt?“

      „Dass – dass du es Phil ganz klar gemacht hast.“ Im Fernsehen war der Palmenstrand von einer tristen Straße mit überquellenden Mülltonnen abgelöst worden.

      „Ja. Das hab ich. Nur einschüchtern, keine körperliche Gewalt, hab’ ich gesagt.“ Alison hörte ein Schnaufen. „Ich hab’ Phil angerufen, aber er meldet sich nicht. Vielleicht hat er es auch noch gar nicht an jemanden weitergegeben. Alison?“

      „Ja?“

      „Es kann gut möglich sein, dass das alles gar nichts mit dir zu tun hat.“

      „Was?“ Sie begriff nichts mehr. All das konnte nicht wahr sein. Sie würde gleich aufwachen und entdecken, dass sie mit einer Freundin am Telefon über das Writer’s Festival plauderte.

      „Ich meine, es könnte auch Zufall gewesen sein, oder? Jemand bringt eben jemanden um, es hätte auch jemand anders treffen können.“ Christines Stimme war erschreckend nüchtern. „Nur war es halt Valerie Tate!“

      Alison schwieg, dachte nach. Konnte es einen solchen „Zufall“ geben?

      „He, Ally! Wo bleibst du?“ Von draußen drang die Stimme ihres Vaters herein. „Dein Steak wird kalt!“

      „Ich muss Schluss machen, ich ruf’ dich später wieder an.“

      „Alison!“ Christines Stimme klang scharf.

      „Ja?“

      „Du musst jetzt die Nerven behalten, hörst du?“

      „Ja.“

      „Du darfst niemandem etwas anvertrauen, verstehst du?“

      „Ja.“

      „Sonst sind wir nämlich beide dran, kapierst du das?“

      „Sicher.“

      „Wir sind beide dran“, wiederholte sie, und Alison überhörte nicht ihre Betonung.

      „Alison?“ Das war ihre Mutter.

      „Ich muss jetzt aufhören …“

      „Guten Appetit!“, sagte Christine gehässig, und Alison hörte ein Klicken in der Leitung.

      „He, Alison! Sollen wir gehen, oder was?“ Ihr Vater rief.

      „Ich komme schon!“ Mit unendlich langsamer Bewegung legte sie den Hörer auf das Buch über Modefotografie im zwanzigsten Jahrhundert. Konnte das möglich sein? Sie, Alison Griffith, geborene van Oosterzee hatte einen Menschen töten lassen?

      Jeder Schritt fiel ihr schwer, als müsse sie sich plötzlich auf einem anderen Planeten, in dem anderen Schwerkraftgesetze herrschten, zurechtfinden. Es kann nur Zufall sein, wiederholte sie sich, ich habe nichts damit zu tun.

      „Ist dir nicht gut, Darling?“ Der besorgte Blick ihrer Mutter.

      „Mach’ doch nicht so ein Aufhebens, Maggi.“ Das war ihr Vater.

      Sie sah zu Matthew. Arglos schnitt er ein Stück Steak ab, steckte es sich in den Mund, kaute und spülte es mit einem Schluck James Boag’s herunter.

      „Wer war das?“, wollte Matthew wissen. Seine Geliebte war ermordet worden - und er wusste es noch nicht.

      „Die Mutter einer Freundin von Prudence.“ Wie leicht ihr doch die Lüge über die Lippen ging. Matthew würde es aus dem Fernsehen erfahren, nachher, wenn ihre Eltern gegangen wären, und er sich mit einem Drink auf der Couch entspannen wollte.

      „Seid ihr eigentlich sicher, dass Prudence keine Drogen nimmt?“, fragte ihre Mutter.

      „Margret, wieso sollen sie sicher sein? Sie können es nur hoffen.“ Das war ihr Vater.

      „Wir reden mit ihr über all solche Sachen.“

      „Klar, ihr seid ja ein modernes Paar, was?“

      „Aber sie ist doch in Adelaide – und außerdem spricht man über so was nicht mit seinen Eltern!“

      „Matthew“, hörte sie ihre Mutter sagen, „Ihr solltet mal verreisen. Alison erscheint mir so nervös.“

      „Matthew kann höchstens mal übers Wochenende weg“, antwortete ihr Vater. „Jake ist im Krankenhaus, und er muss schließlich was tun für sein exorbitantes Gehalt!“

      „Aber Paul! Gönn’ deinem Schwiegersohn doch auch mal was!“

      „Ich gönn’ ihm alles, Maggie! ICH fahr’ keinen Porsche!“

      „Du weißt genau, was ich meine, Paul!“

      Alison hörte sie reden, sah sie Fleischstücke schneiden und in den Mund stecken. Sie ließ das Besteck auf den Teller fallen. Alle sechs Augen richteten sich auf sie.

      „Es – es tut mir leid, aber ich fühle mich nicht wohl.“ Ohne sich um die Blicke zu kümmern, eilte sie ins Wohnzimmer und schaffte es gerade noch zur Toilette, um sich zu übergeben. Sie spülte den Mund aus, wusch sich das Gesicht und sah sich im Spiegel ins Gesicht. Wässrige, rotgeränderte Augen starrten ihr, aus einem blassen, schmalen Gesicht entgegen. Haarsträhnen klebten in der Stirn, sie strich sie mit der Hand heraus. Es musste ein Zufall sein. Ein dummer Zufall. So was gab es doch. Man wünscht sich den Tod eines Menschen - und dann verunglückt er. Wie oft hat es so was schon gegeben! Klopfen an der Tür ließ sie herumfahren.

      „Alison, ist alles in Ordnung?“ Das war Matthew. Was sollte sie sagen? Wie sollte sie erklären, warum sie das Fernsehen angeschaltet hatte? Er würde fragen. Und sie müsste ihm von ihrem Auftrag berichten.

      „Es muss die ganze Aufregung sein. Das Erdbeben und …- ich komme gleich!“ Oh, wie sie sich selbst hasste. Sie atmete durch, putzte sich rasch die Zähne, fuhr sich durchs Haar. Sie richtete sich auf und ging hinaus.

      5

      Costarelli


Скачать книгу