Spurlos. Manuela Martini

Spurlos - Manuela Martini


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wischte sich mit einem großen Taschentuch über das erhitzte Gesicht.

      „Mannomann“, er drehte sich zu Shane, „gerade noch geschafft! Haben Sie’s auch mitgekriegt?“

      „Was?“

      „Das Beben! Ich bin gerade nach Hause gekommen, wollte mich umziehen und dann zum Flughafen. Ich steige in der Garage aus dem Wagen, da merke ich’s schon. Das Zittern unter meinen Füßen. Letzten Monat gab es schon mal so was. Ich hab’ zuerst gedacht, he, du hast den ganzen Tag gesessen, mit deinen Beinen und Füßen stimmt was nicht. Aber dann habe ich gesehen, dass die Schnüre mit denen ich ein Fahrrad an die Wand gehängt habe, sich auch bewegt haben. Und dann hat meine Frau schon gerufen!“ Er wischte sich erneut übers Gesicht. „Mann, sie hat schon ganz furchtbare Beben erlebt. Sie kommt aus Indonesien. Ich wollte erst gar nicht fliegen oder die Maschine heute nacht um halb eins nehmen, da wäre ich morgen Früh in Brisbane, aber sie hat mich weggeschickt.“ Er lächelte unbehaglich. Sicher machte er sich Vorwürfe.

      „Nein“, sagte Shane, „ich hab’ nichts gemerkt. Vielleicht weil ich im Auto war.“

      Der Mann nickte. „Na ja, hoffen wir mal, dass es nichts Schlimmeres wird.“ Er stopfte das Taschentuch umständlich in die Hosentasche zurück. „He, ich hoffe, es gibt bald was zu trinken!“ Der Mann lachte zu ihm herüber. Er sah so aus, als ob ihm noch immer die Knie zittern würden.

      Darwin lag an einer tektonisch instabilen Stelle. Schon oft hatte es Beben gegeben. Eine große Katastrophe war bisher ausgeblieben – jedenfalls, die auf ein Beben zurückzuführen war. Eine andere Katastrophe für Darwin hatte sich 1974 ereignet. Damals, am Weihnachtstag, hatte der Zyklon Tracy die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Seitdem datierte man Ereignisse auf die Zeit „vor“ oder „nach“ Tracy. Sein Vater war nach Weihnachten zur Verstärkung der Polizei nach Darwin gereist. Shane erinnerte sich an die Fernsehbilder von der Zerstörung. Man hätte sie für Bilder von einem Bombenangriff halten können.

      Ein Whisky auf Eis wäre jetzt gut, dachte er, drehte sich zum Fenster und wartete darauf, dass sich die Maschine endlich bewegte.

      „Detective Shane O’Connor?“ Eine Stewardess mit blondem Pferdeschwanz und großen Augen sah ihn an. „Bitte kommen Sie mit.“

      Sein dicker Nachbar musterte ihn skeptisch bevor er mühsam aufstand, um ihn herauszulassen.

      „Ihr Handgepäck?“

      Er deutete auf die Tasche in der Ablage. Sie nahm sie für ihn heraus. Er würde also nicht mitfliegen. War er plötzlich verdächtig geworden? Glaubte man, in seinem Handgepäck befände sich eine Bombe? Darauf gefasst, von ein paar bulligen Sicherheitsoffizieren mit kugelsicheren Westen und Maschinengewehren im Anschlag im Empfang genommen zu werden, folgte er der Stewardess nach vorn. Vor dem Cockpit, wandte sie sich um und wies auf den noch offenen Ausgang, in dem ein Mann stand.

      „Da wärst du uns doch beinah durch die Lappen gegangen, wo hast du denn dein verfluchtes Telefon, O’Connor!“

      „Tony Costarelli?“ Allein an der rauen Stimme, die den langjährigen Nikotinjunkie verriet, hätte er den braungebrannten Detective mit der großen, gebogenen Nase, dem pockennarbigen, sonnenverbrannten, breiten Gesicht und dem welligen nach hinten gekämmten, dunklen Haar erkannt. Gleich bei der ersten Begegnung vor zehn Jahren, bei einer Fortbildung, hatte Shane ihn an einen aggressiven, muskelbepackten Kampfhund erinnert, der nur darauf wartete, endlich auf den Gegner losgelassen zu werden und zubeißen zu können. Jetzt sah er ein bisschen weniger aggressiv aus. Seine Wangen waren eingefallen und seine Augen sahen müde aus. Doch noch immer schien er gut in Form, kein Bauch, muskulöse Arme. Aus dem aufgeknöpften Kragen seines bordeaux-roten Poloshirts ringelten sich dunkle Brusthaare, und eine dicke Goldkette mit einem Kreuz blitzte hervor. Der typische Italo-Cop, hatte Shane schon damals gedacht.

      „Warum zum Teufel holst du mich aus der Maschine raus, Tony?“

      Die Stewardess schloss die Tür hinter ihm. Sein Rückflug war damit gestorben. Costarelli schob den kräftigen Unterkiefer vor, als wolle er grinsen. Doch er grinste nicht. „Ich war sauer, dass du dich nicht bei mir gemeldet hast, als du in Darwin warst –.“ Auf seiner breiten Stirn vertieften sich die horizontalen Falten. „Wir haben eine ziemlich beschissene Sache hier.“ Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.

      „Gentlemen, Sie können hier nicht stehen bleiben!“ Zwei Männer mit grellgelben Sicherheitswesten und rauschenden Funkgeräten in der Hand wiesen sie an, zurück in die Halle zu gehen.

      „Ich erklär’s dir auf dem Weg.“ Costarelli hob seine Tasche auf und setzte sich in Bewegung. „Sagt dir der Name McNulty noch etwas?“

      „Dick McNulty?“ Shane wäre stehen geblieben, wenn Costarelli nicht die Glastür nach draußen aufgestoßen hätte.

      „Genau der.“

      Feuchtwarme Luft und der süßliche Geruch vermodernder Blüten schlugen ihm entgegen, dabei hatte er gehofft, ihm entkommen zu sein. Natürlich erinnerte er sich an McNulty. Der Fall war einer der grausamsten seiner Laufbahn gewesen.

      „McNulty ist anderthalb oder zwei Jahre nach seiner Festnahme in der Psychiatrie gestorben“, sagte Shane. Sie blieben vor einem blauen Wagen stehen.

      Costarelli ließ per Fernbedienung den Kofferraum aufspringen und warf Shanes Tasche ohne Anstrengung hinein. Als Shane einstieg, wusste er noch immer nicht, worum es ging. Costarelli steckte den Schlüssel ins Zündschloss und drehte sich dann zu ihm um.

      „Wir haben eine Tote. Der Mord trägt McNultys Handschrift.“

      Die grausigen Bilder schwappten an die Oberfläche.

      Costarelli zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche und zupfte eine Zigarette heraus. Costarelli ließ das Feuerzeug aufschnappen. „Es ist eine Frau namens Valerie Tate, Assistentin von …“

      „Alex Winger?“

      Shane starrte durch die Windschutzscheibe in die hereingebrochene Nacht. Plötzlich bekam alles einen Sinn. Das Warten im Gericht, das Kopfschütteln des Staatsanwalts.

      Costarelli hustete und nahm dann einen tiefen Zug und blies den Rauch aus dem geöffneten Fenster.

      „Genau die.“

      Ein Aborigine hatte etwa einen Kilometer von seinem Haus entfernt eine Leiche entdeckt und die Polizei verständigt. Die Gegend war kaum bewohnt, nur Busch und Sümpfe. Sie gehörte zum Coastal Reserve, das ohne Erlaubnis nicht zugänglich war.

      „Wir sind gleich hingefahren. Ich wusste, dass du wegen einer Gerichtssache in der Stadt bist und hab’ den Staatsanwalt angerufen. Der hat mir gesagt, dass du schon die Fliege machst. Aber ich dachte mir, es könnte es wert sein, dich zurückzuholen, du hast schließlich in dem Fall ermittelt und kennst die Details.“

      „Aber McNulty ist tot, Tony. Es kann nicht DER Fall sein, …“ Shane brach ab. „Die Beweise waren hieb- und stichfest, und er hatte gestanden.“ Shane sah die Bilder der Leiche vor sich und verfluchte das Flugzeug, das nur wenige Minuten früher hätte starten müssen – und er müsste sich nicht wieder mit diesem Fall beschäftigen. „Du weißt, dass ich so gut wie draußen bin“, sagte Shane. Tony Costarelli warf ihm einen kurzen Seitenblick zu, der Shane beunruhigte.

      4

      „Dad, willst du noch Salat?“ Alison hob die große Holzschüssel hoch.

      „Ich nehm’ mir lieber noch eins von den Steaks!“ Ihr Vater ging mit seinen typischen ausgreifend langen Schritten hinüber zum Grill. „He, Matt, du lässt die Steaks immer verbrennen! Meins war neulich trocken wie der Staub der Gibson-Wüste! Aber unser Matt“, ihr Vater legte seine große, schlanke Hand auf Matthews Schulter und lachte, „war ja noch nicht in der Gibson-Wüste!“ Alison kannte den provozierenden Unterton. Der fast Siebzigjährige lachte am liebsten und am lautesten über seine eigenen Witze. Aber das war schon immer so gewesen. Alison erinnerte sich, wie ihre Schwester Christine oft Witze erzählt hatte, um ihren Vater


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