Spurlos. Manuela Martini

Spurlos - Manuela Martini


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gierig wir uns auf ein Streitthema stürzen, dachte sie.

      „Aber auch nicht ewig her, oder? Du weißt genau, dass ich diese Familientreffen nicht besonders mag.“ Er hatte endlich die Reisetasche abgestellt. „Außerdem hättest du mir das ruhig früher sagen können!“

      Sie lächelte. Jetzt rächte sie sich für die einsame Nacht, für die Täuschung, seine Lügen: „Du hast dich ja nicht mehr gemeldet.“

      „Du hast doch selbst gesagt, dass ich dich nicht noch einmal anrufen muss.“

      „Ach – muss!“

      „Hör’ auf, Alison! Du legst jedes Wort auf die Goldwaage!“

      „Und du verrätst dich selbst!“

      Sekunden spannungsvoller Stille. Mein Gott, dachte Alison, warum bin ich so weit gegangen?

      „Am besten, du sagst deinen Eltern ab“, sagte er kühl.

      „Jetzt, eine Stunde vorher? Du weißt genau, dass mein Vater für so etwas überhaupt kein Verständnis hat!“

      „Dein Vater? Na und. Das ist mein Haus.“

      „Zufällig arbeitest du in der Firma meines Vaters. Und dass alles hier …“, seine Demütigung auskostend beschrieb ihr Arm einen weiten Bogen über das gesamte Grundstück.

      „Jetzt pass gut auf, was du sagst!“ Er reckte sein Kinn. „Ich schufte jeden Tag der Woche in dieser verdammten Firma, muss mir die Großkotzigkeit deines Vaters gefallen lassen …“

      „Du kannst ja kündigen, Matthew!“ Und dich scheiden lassen, wollte sie hinzufügen, schreckte doch davor zurück. Sie starrten sich an bis er die Schultern zuckte und zur Küchentür ging, die ins Haus führte.

      „Matthew?“

      Er blieb unwillig stehen. Sie sah ihn an. Sah in seine braunen Augen, betrachtete sein kurzes geschnittenes, volles Haar, seine markanten, schottischen Züge, in die sie sich gleich am Anfang verliebt hatte.

      Jetzt, jetzt wäre der Moment. Ich weiß es: du hast eine Geliebte. Du kannst es dir ersparen, es abzustreiten. Das, genau das, hätte sie in diesem Augenblick sagen müssen. Doch sie sagte:

      „Liebst du mich eigentlich noch?“

      Sie wollte ihn wieder lügen sehen. Sie wollte den letzten Zweifel an Christines Beobachtung ausschließen. Wie angestrengt sein Lächeln war.

      „Natürlich. Habe ich dir das nicht erst gestern am Telefon gesagt?“

      „Matthew?“

      Er holte Luft, zeigte, wie ihm ihre Fragerei auf die Nerven ging.

      Eine letzte Anstrengung: „Würdest du mir sagen wenn …“

      „Was denn?“ Seine Freundlichkeit war geheuchelt. „Sag’ schon, Alison, ich möchte unter die Dusche!“ Er begann sein weißes Hemd aufzuknöpfen.

      „Würdest du mir sagen, wenn …“ sie brach ab, er musste in diesem Moment wissen, was sie sagen wollte. Er sah sie an, bereit sofort alles abzustreiten, aber war da nicht auch eine Spur Angst in seinem Blick? Angst vor der Wahrheit? In diesem Moment könnten sie den Lügen ein Ende bereiten, könnten vielleicht noch mal von vorne anfangen -

      „… wenn … wenn du mich nicht mehr lieben würdest?“ Sie hatte versagt – nicht den Mut für die richtige Frage gehabt.

      Sein Gesicht entspannte sich ein wenig. Allerdings blieben die Längsfalten auf der Stirn.

      „Sicher. Du würdest es mir doch auch sagen.“

      Geschickt, wie er mit einer Frage an sie von sich selbst ablenkte. Sie antwortete nicht.

      „So“, sagte er plötzlich gut gelaunt, „jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst bin ich nicht für deinen Daddy fertig!“

      Sie blieb sitzen, schloss die Augen und ließ den Wind vom Ventilator über ihr Gesicht streichen. Es war zu spät. Seit Jahren zu spät. Die Lügen waren zur Normalität geworden. Nein, es gab keinen Neuanfang mehr. Sie hatten den Zeitpunkt verpasst, lange schon verpasst. Sie konnten nicht mehr neu anfangen – und ganz sicher nicht auf der Basis einer erzwungenen Trennung von seiner Geliebten. Wie hatte sie nur so naiv sein können?

      Sie griff zum Telefon auf dem niedrigen Tisch neben dem Krug mit Eistee.

      Christine meldete sich nicht. Sie versuchte es auf dem Festnetz. Der Anrufbeantworter schaltete sich an. Alison überlegte, ob sie eine Nachricht hinterlassen, oder es noch einmal probieren sollte. Sie entschied sich, zu sprechen.

      „Hier Alison. Christine, sag’ alles! Ich hab’s mir anders überlegt.. Ruf’ mich so bald wie möglich an!“

      Kaum hatte sie den Hörer zurückgelegt, irritierte sie ein lautes Aufkreischen der Vögel. Sie waren nie besonders leise, aber etwas schien sie aufgescheucht zu haben. Über das Verandageländer sah sie kleine Vögel auffliegen. Und gegen das Blau des Himmels zeichneten sich die Silhouetten vieler Vögel ab. Seltsam, dachte sie. Zu dieser Jahreszeit war kein Zyklon zu erwarten, die würden erst ab Oktober hereinbrechen. Auf einmal hörte sie keine Vogelstimmen mehr. Es war totenstill. Und dann zitterte der Boden unter ihr. Oh, Gott, dachte sie, letzten Monat hatte die Erde schon einmal gebebt, aber nur kurz und es war nichts weiter geschehen. Die Dielen vibrierten, ein Klirren ließ sie herumfahren. Ihr Glas, das sie am Tischrand abgestellt hatte, war heruntergefallen und zerbrochen. Sie krallte ihre Hände in die Lehne, obwohl ihr klar war, dass dies in jeder Hinsicht sinnlos war. Matthew kam, mit einer Boxershorts bekleidet und blieb im Türrahmen stehen.

      „Stell’ dich in den verdammten Türrahmen!“, rief er zu ihr herüber, doch sie blieb einfach sitzen. Vielleicht wäre es besser, wenn alles hier und jetzt ein Ende nähme. Vielleicht wäre das der richtige Moment … vielleicht war dieses Beben dazu da, um …

      „Alison! Komm’ sofort her!“

      Sie hörte drinnen im Haus etwas zerbrechen. Das Beben stockte. Da ruckte der Boden wieder. Sie sah an die Decke. Dort schaukelte der Papierdrache von Prudence. Und auf einmal war es vorbei.

      „Ein verdammtes Erdbeben!“ Matthew fluchte, als ob sich die Natur davon beeindrucken ließe. „Da komme ich heim – und was passiert? Ein Erdbeben!“

      Er sah zu ihr. „Warum bist du nicht hergekommen? Was wäre, wenn das Verandadach zusammengebrochen wäre?“

      Sie erwiderte nichts, wandte sich ab und sah in den Himmel. Die Vögel kamen zurück. Alison drehte sich um und sah Matthew in die Augen.

      „Warum betrügst du mich?“

      3

      Shane reihte sich in die Schlange der Wartenden vor dem Schalter ein. Die Verhandlung war bis nächste Woche verschoben. Valerie Tate, die Assistentin der Anwältin, , war unauffindbar geblieben.

      Die ersten Boarding-Karten wurden abgerissen. Längst war die Dunkelheit hereingebrochen. Durch die Scheiben sah er die orangefarbenen Lichter auf den polierten Flächen der Flugzeuge reflektieren, die wie riesige, dicke Amphibienleiber da draußen lauerten.

      Er hatte auf der Fahrt zum Flughafen im Taxi Carol angerufen. Sie käme am Wochenende aus Vanuatu zurück. Fast drei Wochen lang hatten sie sich nicht gesehen. Er vermisste sie. Er sehnte sich nicht nur körperlich nach ihr sondern auch nach ihrem trockenen Humor, nach ihrem Blick, ihrem Lachen, er sehnte sich danach, einem Menschen wieder nahe zu sein. Das war sehr lange nicht mehr so gewesen. Da hatte er die flüchtige Begegnung gehabt, Affären, die rasch wieder endeten. Doch Carol hatte etwas in ihm verändert. Wenn er sie nicht getroffen hätte, hätte er wohl noch nicht seinen Abschied von der Homicide Squad genommen. Mit achtundvierzig aus dem Dienst ausscheiden? - Nein, das hatte er sogar letztes Jahr noch nicht geahnt.

      „Danke, Sir, guten Flug!“ Die Airline-Angestellte lächelte und gab ihm den Abschnitt der Boarding-Karte zurück. Er nahm seinen Platz in der elften Reihe


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