Höllentrip. Manuela Martini

Höllentrip - Manuela Martini


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      Alle Rechte vorbehalten.

      Tag der Veröffentlichung: 11.9.2014

      Prolog

      Dick wie Brei ist die Luft. Er zerfließt auf der Straße, die auf dem staubigen Land klebt. Die zähe Hitze erstickt jeden Laut und lähmt jede Regung. Auch der kurze Schatten der Gestalt da mitten auf der Straße bewegt sich nicht.

      Charlie Isaacs hält seine beiden schweren Hände am Steuer, der Fuß ruht auf dem Gaspedal. Hinter ihm donnern elf Achsen, zwei Anhänger mit hundertachtzig Rindern auf zwei Stockwerken. Gierig verschlingt der Hundertfünfzig-Tonnen-Truck die Straße, die wie aufgerollte Lakritze über der gegerbten Erde liegt. Im Radio geben sie die Wettervorhersage durch. Die Straße ist frei. Er zählt schon lang nicht mehr, wie oft er diese Strecke schon gefahren ist. Den Balonne-Highway von Charleville oder manchmal auch runterkommend von Blackall nach Brisbane. Und immer wusste er, dass sie zu Hause auf ihn warten würde. Ich liebe dich nicht mehr. Noch das Echo ihres Satzes von heute Morgen übertönt das Autoradio.

      Zwei Kängurus, von den Motorhauben unaufhaltsamer Road Trains geprallt, liegen zerschmettert am Straßenrand. Ich liebe dich nicht mehr. Charlies Blick verschleiert sich. Sein ganzes Leben war heute Morgen sinnlos geworden.

      Die breiige Luft beginnt zu wabern, die scharfen Blätter der Eukalyptusbäume zischen. Aus der Ferne dringt ein Grollen heran. Wild tanzen die Sandkörner auf dem Asphalt. Der Schatten regt sich noch immer nicht, doch Wind zerrt jetzt an rotem Stoff, schlägt ihn hoch - ein Kinderbauch darunter.

      Du verstehst mich nicht. Das hatte sie schon häufiger gesagt. Und er wusste bis heute nicht, was sie damit meinte.

      Charlie wirft einen Blick in den Außenrückspiegel, tröstet sich am Anblick der im Fahrtwind flatternden Ohren der braunen Rinderköpfe, die aus den Verschlägen schauen wie Reisende. Arglos, denkt er und verdrängt sein Schuldgefühl. Sie wissen ja nicht, wo die Reise endet, sagt er sich. Zum Glück wissen sie es nicht. Er wischt sich mit dem Ärmel die Tränen von seinem breiten Gesicht.

      Die Stille zerbirst in Donnern und Dröhnen. Barsch fegt die Druckwelle die Sandkristalle vom Asphalt, reißt am roten Stoff. Dürre Äste biegen sich. Doch der kurze Schatten bleibt, wo er ist.

      In der ersten Sekunde hält Charlie es noch für ein Känguru, dann aber wird es rot und rote Kängurus gibt es nicht. Mit seinen neunzig Kilo Körpergewicht steigt Charlie auf die Bremse, krallt sich ans Lenkrad. Der Schub schleudert ihn zur Windschutzscheibe, der Sicherheitsgurt reißt ihn zurück, nimmt ihm die Luft; kreischend rutscht Gummi über Asphalt, Rinderkörper krachen an metallene Wände, brüllen, Motorgewinde gellen, Bremsen schreien, ein hundertfünfzig Tonnen schweres Geschoss rast auf ein rotes T-Shirt zu. Charlie schließt die Augen.

      Als er sie wieder öffnet, ist es totenstill. Der Road Train steht. Drei Meter vor einem Kind in einem roten T-Shirt. Der Junge rührt sich nicht. Seine Kleider sind zerrissen, seine Haut aufgeschürft, seine Augen starren ins Nichts. Charlie schluckt. Die Kehle so trocken, dass die Zunge am Gaumen klebt. Der Junge musste dem Teufel entkommen sein, schießt es ihm durch den Kopf. Er steigt aus.

      „Sie kommen, mich holen“, flüstert der Junge.

      „Wer?“ Charlie weiß nicht, ob er richtig verstanden hat.

      „Sie haben sie eingegraben.“

      „Wer?“ Charlie berührt ihn vorsichtig an den schmalen Schultern. Sie sind zerbrechlich wie Vogelknochen. Doch der Junge antwortet nicht mehr.

      Es ist Samstag, der vierte November. Hundert Kilometer vor Miles und hundertfünfzig vor Chinchilla.

      Kapitel 1

      Detective Sergeant Shane O’Connor von der Homicide Squad in Brisbane, Queensland, setzte die Sonnenbrille ab und atmete tief den scharfen Duft der Eukalyptusbäume ein. Über ihm in den Ästen krächzten Vögel. Die Erde war von Rinden und brottrockenen Blättern bedeckt, die unter jedem seiner Schritte zerbrachen. Unablässig verscheuchte er die Fliegen, die sich in sein schweißnasses Gesicht setzten.

      Schon von weitem sah er zwischen dem Gehölz des Wäldchens hindurch das gestreifte Band, mit dem man den Fundort abgesperrt hatte. Es war Samstag, der elfte November, vier Uhr nachmittags. Der Ort hieß Chinchilla und wäre die Fotografin, die Aufnahmen von dem hier stattfindenden Polocrosse-Turnier für das Australian Polocrosse Magazine machen sollte, nicht ihrem Hund nachgelaufen, der sich durch kein Rufen vom Buddeln abbringen ließ, dann hätten er und seine Kollegin Detective Tamara Thompson im Brisbaner Headquarters gleich Dienstschluss gehabt. Statt dessen waren sie vor drei Stunden hergefahren. Unterwegs hatte die Klimaanlage des Dienstwagens versagt, und vom Fahrtwind des offenen Fensters brannten seine Augen.

      Doch das störte ihn weniger als dieses Gefühl, das sich ihm schon auf der Hinfahrt aufdrängte und das er hastig zu vertreiben suchte. Er war nun bald Mitte Vierzig, seit fast fünfzehn Jahren bei der Mordkommission, aber seit einem Jahr tauchte es immer öfter auf: Das Gefühl, nein, das Wissen, eine Situation schon einmal erlebt zu haben. Dieses Phänomen beunruhigte ihn. Und noch etwas anderes beunruhigte ihn: Er verlor das Mitgefühl.

      „Hier her, Detective!“, rief ein Mann, so groß und breit wie ein Schrank, und winkte. Shane zwang sich, nicht mehr darüber nachzudenken. Es ist Samstag, der elfte November. Ich war noch nie in Chinchilla. Und diesen Detective da vorn kenne ich auch nicht, sagte er sich.

      „Meint er, wir sind blind?“, sagte Detective Tamara Thompson, die dicht hinter Shane herging, in beigefarbenem kurzen Rock und dunkelblauem Top, und mit den Händen fuchtelnd die Fliegen vor ihrem Gesicht zu verjagen suchte. Vor einem Jahr war sie als vorübergehende Verstärkung in das Homicide Squad Team gekommen, und dann geblieben. Obwohl Shane sie von Anfang an anziehend fand – sie war dunkelhaarig, schlank, sportlich, intelligent und schlagfertig - hatte er seinem Ruf, hinter jeder Frau her zu sein - getrotzt und nie mehr als einen freundschaftlichen Drink mit ihr genommen. Darüber verspürte er einen gewissen Stolz.

      „Detective Herb Kennedy“, stellte sich der muskelbepackte Polizist mit dem akkuraten Kurzhaarschnitt vor und lächelte ihn aus einem sympathischen Gesicht an. Shane nickte nur. Herb Kennedy, dachte er, diensteifrig, ehrgeizig und korrekt. Er bückte sich unter der Absperrung hindurch. Vor ihm lag ein entwurzelter Baum. Die flache Grube, die seine Wurzel hinterlassen hatte, war als Grab benutzt worden. Blitzlichter des Polizeifotografen zuckten, die Männer von der Spurensicherung bewegten sich still, steckten Schilder mit Nummern in die Erde, nahmen Abdrücke, stülpten Plastiktüten über die Hände der Leiche. Am Boden, neben der Grube, hockte Dr. Eliza Lee, die Gerichtsmedizinerin, und verschloss ihre Arbeitstasche.

      „Ausgerechnet heute, mitten im Turnier!“ Herb Kennedy schüttelte den Kopf. „Sie können sich nicht vorstellen, was hier los war!“ Seine Stimme war eine Idee zu hoch für seine Statur, fiel Shane auf und erwiderte nichts. Immer wieder erlebte er, dass Menschen nicht den Mord selbst, sondern die durch ihn hervorgerufene Störung als Zumutung empfanden. Er war offensichtlich nicht der einzige, dem das Mitgefühl abhanden kam, dachte er.

      Shane betrachtete die Tote. Eine junge Frau, Ende Zwanzig vielleicht. Sie trug einen kurzen Jeansrock, ein gebatiktes rotes T-Shirt, keine Schuhe. Ihr Haar war schulterlang und blondgelockt, unnatürlich blond und unnatürlich gelockt. Über der Stelle, wo das rechte Auge vor der Zerstörung durch Gliedertiere gesessen hatte, klaffte ein schwarzes, an den Rändern ausgefranstes Loch von etwa zehn Zentimetern Durchmesser.

      „Auf den ersten Blick würde ich sagen, seit etwa einer Woche tot“, sagte Dr. Eliza Lee nüchtern und erhob sich, „Läsion des Schläfenbeins - ist auch möglicherweise die Todesursache.“ Elizas Blick streifte Tamara kurz und kühl.

      „Hier war jemand offensichtlich unter extremem Zeitdruck“, bemerkte Tamara an Shane gewandt, ohne von Eliza Notiz zu nehmen, „oder einfach nur faul und schlampig.“

      „Die Erde ist sehr hart“, erwiderte Shane.


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