Sekt(e) oder Selters. Hannes Wildecker

Sekt(e) oder Selters - Hannes Wildecker


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Flug. Ich überlegte, ob ich jünger sein wollte, wenn sich die Möglichkeit dazu böte. Eine Frage, die ich mir schon des Öfteren gestellt hatte. Und immer wieder kam ich zu demselben Ergebnis. Nein! So wie es ist, so ist es richtig. Und außerdem: Warum sollte man die Vergangenheit mit ihren Höhen und Tiefen noch einmal durchleben wollen? Nein, musste nicht sein.

      „Was gibt`s?“, wechselte ich das Thema. „Wer ist die Leiche? Was ist passiert. Mord?“

      „Viele Fragen auf einmal. Identität negativ. Hat keine Papiere bei sich, nicht einmal einen Geldbeutel. Komm her, sieh dir das an!“

      Peters trat zur Seite und ich sah vor uns auf der Erde einen leblosen weiblichen Körper in Rückenlage, gebettet auf einer grauen Wolldecke. Sie war noch sehr jung, diese Frau, vermutlich noch nicht einmal dreißig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge waren im Tod noch sehr ansehnlich, sie musste einmal eine sehr schöne Frau gewesen sein. Das lange dunkelblonde Haar hatte sich neben ihrem Kopf ausgebreitet, so als hätte man die Tote bewusst so gebettet.

      Peters schien meine Gedanken erraten zu haben. „Die Frau war in die Decke eingewickelt, eingerollt sozusagen. Wir beide“, er sah zu seinem Kollegen hinüber, „Kollege Franzen und ich, haben sie daraus befreit.“

      „Befreit? Naja, wie man`s nimmt.“

      Peters überhörte meine Bemerkung.

      „Dieser Ort hier ist nicht der Tatort. Die Leiche wurde hierher gebracht, vermutlich mit einem Fahrzeug, und dann hier abgelegt. Verletzungen konnte ich keine feststellen. Aber ich habe da einen grauenvollen Verdacht. Wir sollten warten, bis der Arzt die Tote genauer untersucht hat.“

      „Wurde sie … vergewaltigt?“

      „Sieht nicht danach aus.“

      Peters drehte den Kopf der Frau mit dem Gesicht in meine Richtung und ich erschrak.

      „Was ist das?“

      „Es sieht aus wie ein Brandmal. Es ist ein Brandmal“, erwiderte Peters. Ein Kreuz, eingebrannt auf der Stirn der Toten. Ist doch pervers sowas, oder?“

      „Was will der Täter damit ausdrücken. Er muss sich doch etwas dabei gedacht haben.“

      „Vermutlich ist er nur krank im Kopf.“

      „Oder er will uns damit etwas mitteilen.“

      Peters nickte nachdenklich. „Möglich ist auch ein religiöser Wahn oder so etwas. Hat es doch schon oft gegeben. Vielleicht hat er was gegen Frauen.“

      „Oder gegen eine bestimmte Art von Frauen.“

      „Du meinst, das Brandzeichen soll eine Art Bestrafung sein?“

      „Nicht nur das Brandzeichen. Die gesamte Tat, vielleicht.“

      Ich ging erneut in die Hocke und sah mir das Zeichen genau an. Es handelte sich um die Kontur eines Kreuzes, etwa vier Zentimeter hoch und zwei Zentimeter breit. Was anders war, als die Kreuze, die ich kannte, waren die waagerechten und senkrechten Abdeckungen auf den jeweiligen Enden der Balken.

      Der Umriss des Kreuzes war nicht akkurat gearbeitet. Es hatte den Anschein, als habe man das Teil auf die Schnelle zusammengelötet. Ich würde mir den Abdruck in der Leichenhalle näher ansehen.

      Ich sah mich um. „Ist ein Arzt verständigt?“

      „Ist alles erledigt. Auch der Bestatter ist informiert.“

      „Was ist mit der Decke? Irgendwelche Spuren?“

      „Ja, die Decke. Auf sie wird sich unsere ganze Hoffnung stützen. Auf ihr wird es vor DNA-Spuren wimmeln. Wir brauchen dann nur noch die entsprechende Gegenprobe. Ist doch eigentlich ganz einfach, nicht wahr?“

      Ich stand langsam aus meiner gebeugten Haltung auf und als Peters mir dabei zusah, musste er leise lachen. „Willkommen im Klub! Darf ich dir hochhelfen?“

      Ich wehrte seine Hand ab und betrachtete die Tote, die eine auffallende Blässe überzog. Natürlich sind alle Toten blass, auch das eingefallene Gesicht, die tiefliegenden Augen, die spitze Nase sind Merkmale, die alle Leichen vorweisen, aber ein Hauch von Farbe ist immer noch zu erkennen.

      Ich sah Peters an. „Du sagtest, du hast einen Verdacht? Was für einen Verdacht?“

      „Fällt dir nichts auf?

      Ich sah mir die Leiche noch einmal genauer an.

      Die Leichenflecke! Ich sah keine Leichenflecke! Die Frau lag zwar auf dem Rücken, doch Peters hatte die Oberbekleidung bei seiner polizeilichen Untersuchung bis zu den Brustwirbeln hochgezogen und wären da Leichenflecke gewesen, ich hätte zumindest die Ansätze sehen müssen.

      „Habt Ihr die Leiche in Rückenlage vorgefunden?“, frage ich den Kollegen, der mich nachdenklich ansah und nickte.

      „Es ist dir also auch aufgefallen.“

      „Die Totenflecke auf Rücken oder Bauch fehlen. Das ist doch nicht normal. Entweder die Leiche lag nach der Tat auf dem Boden, dann befinden sich Leichenflecke im Rücken- oder Bauchbereich. Oder die Frau wurde umgebracht, während sie saß. Dann aber müssten an ihrem Gesäß diese Flecken sichtbar sein. Drehen wir die Leiche doch noch einmal zur Seite!“

      „Lass mal!“ Peters winkte seinen jungen Kollegen heran und gemeinsam mit ihm drehte er die tote Frau in eine Seitenlage, ihren Rücken zu mir gewandt, und sah zu mir hinauf.

      „Nichts, absolut nichts, bis auf die leichte Rötung auf dem Gesäß und den Bereich der Füße. Dort sind Blutabsetzungen zu erkennen.“

      Die beiden legte die Frau wieder in Rückenlage ab und Peters stand auf.

      „Das Blut senkt sich in einem Toten immer nach unten ab. Das Gesetz der Schwerkraft, gegen das keine Pumpe mehr angeht. Aber wo ist hier das Blut?“

      „Es wird eine Erklärung dafür geben. Der Doc wird sie eingehend untersuchen müssen. Wir bleiben dabei, bis er fertig ist“, sagte Peters.

      „Hast du wirklich keine Verletzungen feststellen können? Messerstiche oder ähnliches? Die Frau scheint doch verblutet zu sein.“

      „Nein, es gibt keine Anzeichen von Gewalt, außer …“

      „Außer was?“

      „Sie hat leichte Rötungen an den Handgelenken, wahrscheinlich Fesselungsmerkmale. Wenn sie tatsächlich verblutet ist, hat durch die Fesselung vor ihrem Tod das Blut an diesen Stellen eine Stockung erfahren und ist deshalb noch als Farbfleck erkennbar.“

      „Guten Morgen, die Herren. Sie entschuldigen die Verspätung, aber ein dringender Patientenbesuch … Sie verstehen.“

      Wir drehten uns fast gleichzeitig um und um ein Haar hätte ich den Mann mit meiner Drehung umgefegt, so dicht stand er vor mir.

      „Ich glaube, wir kennen uns noch. Dr. Kämmerlein. Julius Kämmerlein aus Hermeskeil. Wir hatten das seltsame Vergnügen vor einiger Zeit im Waldgebiet von Waldhausen. Der Mann, den man mit einem Schwert übel zugerichtet hatte. Ihr Name war … warten Sie … Spürmann, genau. Ihr Name ist … Spürmann. Ja, Spürmann. Habe ich Recht?“

      „Sie haben Recht, Doktor Kämmerlein. Heiner Spürmann, das sind die Kollegen Peters und Franzen.“

      Kämmerlein nickte ihnen zu, stellte seine Arzttasche auf dem Erdboden ab und beugte sich zu der Leiche hinab.

      „Schlimme Sache, damals“, sprach er wie zu sich selbst, als er seine Tasche öffnete und ein Paar Latex-Handschuhe über seine schmalen Hände streifte. „Mal sehen, was wir heute feststellen werden.“

      Ich sah mir Kämmerlein, der in gebeugter Haltung vor der Leiche kauerte, etwas genauer an und stellte fest, dass er sich, seit ich ihn das letzte Mal sah, kaum verändert hatte. Er war nach wie vor hager, doch seinen Haarkranz, der seinen Kopf von einem Ohr zum anderen säumte, hatte er gänzlich wegrasiert.

      Die Sonne hatte seinen Kahlkopf inzwischen gebräunt und es sah nicht einmal schlecht aus. Besser jedenfalls,


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