Sekt(e) oder Selters. Hannes Wildecker
„Auf geradem Weg zu Gott! So nennen wir uns“, wiederholte der Mann, der von großer Statur war. Er trug einen Zopf, in den seine schwarzen langen Haare gefasst waren.
„Wie ich sehe, haben Sie noch nichts von unserer Existenz mitbekommen. Aber genau das ist ja auch der Grund, warum wir uns den Menschen hier in diesem schönen … äh Ort vorstellen. Wir sind eine Glaubensgemeinschaft. Auf geradem Weg zu Gott lautet unsere Devise und das ist auch gleichzeitig der Name unserer Kirche.“
„Dann gehören Sie also der Sekte an, über die …?“
Nun schaltete sich auch der zweite Mann in das Gespräch ein. Er war ein gutes Stück kleiner als sein Kollege und der Kopf mit seiner Hakennase nickte auf- und abwärts, als wolle er mich damit gleich einem Schnabel anhacken, als er sagte: „Sekte? Wer sagt denn sowas? Nein, wir sind eine, mein Bruder sagte es bereits, Glaubensgemeinschaft. Dürfen wir uns mit Ihnen unterhalten? Wenn sie ein paar Minuten Zeit für uns hätten.“
Nun war es an der Zeit, mich gegen eine ungewollte Missionierung zur Wehr zu setzen. Und auch dagegen, dass mir die beiden irgendwelchen Schriftkram in die Hand drückten, denn der Lange mit dem Zopf griff in seine Plastiktüte und förderte eine Lage Zeitschriften zutage.
„Es tut mir furchtbar leid, aber wir müssen das Gespräch leider beenden“, sagte ich schnell, bewusst Hektik verbreitend. „Religion an der Haustür, das liegt mir nicht …“
„Dürfen wir denn hereinkommen …?“
„… und außerdem ist das ein äußerst ungelegener Moment. Sie entschuldigen mich.“
Ich schloss langsam die Tür, den Blick auf den Fuß des Hakennasigen gerichtet, der sich langsam in Richtung des Türspalts geschoben hatte. Doch mein Gegenüber hatte meinen Blick richtig gedeutet und sein Bein wieder entspannt, was ihm einige Schmerzen in der Kniegegend ersparte.
Ich atmete durch, als ich die Tür ins Schloss fallen hörte und war gerade im Begriff die Treppe zur Diele hochzugehen, als ich ein sattes Platschen hinter mir vernahm.
Ich wusste was es war, noch ehe ich mich umgedreht hatte. Mein Verdacht fand sich bestätigt. Unter dem Briefkastenschlitz lag eine Zeitschrift, die Vorderseite in einem satten Himmelblau, auf dem sich ein Arm diagonal nach oben richtete und mit dem Finger – Gott sei Dank nicht mit der flachen Hand - gen Himmel zeigte und mir fett in einem tiefen Blau Auf geradem Weg zu Gott zuschrie.
Ich nahm die Zeitschrift vom Boden auf und als ich die Küche betrat, war Lisa bereits dabei, den Kaffeetisch zu decken. Das Frühstück im Bett hatte also ein jähes Ende gefunden, noch ehe es begonnen hatte. Sie trug ihre Haare, die sie für gewöhnlich zu einem Knoten zusammenband, noch offen. Ich liebte es, wenn ihr die Haare ins Gesicht fielen und sie eine Strähne mit einem kräftigen Luftstrom ihrer zusammengepressten Lippen nach hinten blies.
„Wer war das?“, fragte Lisa und arbeitete weiter und ich wusste nicht, ob es sie tatsächlich interessierte. Erst als sie mich fragend ansah erklärte ich ihr den morgendlichen Besuch an der Haustür.
„Ist aber ein komischer Name, Auf geradem Weg zu Gott. Aber Phantasie haben sie ja, diese Leute.“
Lisa zeigte auf das Titelblatt der Zeitschrift.
„Der Arm dort soll sicher diesen ‚Weg‘ zeigen.“
Dann wechselte sie plötzlich das Thema und ab diesem Moment war der Tag für uns beide stimmungsmäßig gelaufen.
„Was findest du besser, soll ich meine Haare zu einem Knoten binden oder soll ich sie offen tragen, oder vielleicht zu einem Pferdeschwanz fassen? Was meinst du?“, fragte Lisa und tat weiterhin beschäftigt.
Wer die Frauen kennt, der weiß, dass sie in einer solchen Situation nur auf eine Antwort lauern und zwar auf eine baldige. Mit dem Hinauszögern dieser Antwort kann man sich nur in Schwierigkeiten bringen. „Jetzt nur nichts Falsches sagen“, kam es mir in den Sinn.
Ich überlegte fieberhaft in den Bruchteilen von Sekunden, die mir zur Verfügung standen. Was sollte ich antworten auf die eigentlich doch so leichte Frage? Würde ein Mann eine solche Frage stellen, ich würde antworten „Mach, was du willst“ und der Käse wäre gegessen. Aber bei einer Frau ist eine solche Antwort der sichere Scheidungsgrund. Was also sollte ich sagen? Ich kannte Lisa. Was ich ihr auch vorschlagen würde, ich würde den Kürzeren ziehen in dem sich anschließend ergebenden verbalen Gefecht.
„Es steht dir alles gut“, versuchte ich mich an einer Entscheidung vorbeizuschlängeln. „Du wirst es schon richtig machen.“
Meine Antwort war ebenso gut oder so schlecht, als hätte ich geschwiegen, was ich auch besser getan hätte, denn nun begann eine Diskussion, die ich mir eigentlich hatte ersparen wollen.
„Es interessiert dich also nicht, wie ich aussehe? Oder wie soll ich deine Antwort verstehen?“
„Natürlich interessiert es mich, wie du aussiehst. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass dir einfach alle Frisuren stehen.“
Es klang etwas ruhiger, als Lisa weitersprach.
„Aber es gibt doch Unterschiede. Wenn ich einen Knoten oder einen Pferdeschwanz trage, wirkt mein Gesicht doch bestimmt breiter.“
„Dann trage dein Haar doch einfach offen.“
Kaum hatte ich diesen Satz ausgesprochen, hätte ich mir auf die Lippen beißen können.
„Du blöder Hund“, dachte ich bei mir. „Es hätte so ein schöner Morgen werden können.“
„So ist das also. Mein Gesicht ist zu breit. Du möchtest, dass ich es mit dem offenen Haar verdecke?“
Lisa hörte auf, den Tisch weiter zu decken und sah mich geradeheraus an.
„Nein, Lisa, du gefällst mir so, wie du bist. Du verstehst mich falsch. Mir gefällt einfach alles an dir.“
„Und das soll ich dir glauben?“
Lisa begann zu schmollen, was eigentlich ein sehr schlechtes Zeichen war. Schmollen bedeutete, dass sie sich einen Moment selbst bedauerte. Normalerweise wechselte dieses Schmollen in Vorwürfe an mich, verbunden mit einigen Krokodils-Tränen.
„Ich werde mein Haar offen tragen, dann sieht man nicht, dass mein Gesicht zu breit ist.“
„Aber Lisa, jetzt dramatisiert du aber meine Worte. Ich wollte doch nur …“
Mitten in meinen verzweifelten Satz läutete das Telefon.
Es klang wie eine Erlösung und selten, das muss ich an dieser Stelle gestehen, habe ich so sehnlich auf einen Anruf gewartet, Samstag hin oder her. Mit einem erleichterten Blick aus den Augenwinkeln auf Lisa hob ich den Hörer ab.
„Ich komme!“, sagte ich, nachdem ich meinem Gegenüber eine Zeitlang zugehört hatte und legte auf.
„Lisa, ich muss weg, der Dienst ruft“, sagte ich betont ruhig. „Es hat einen Toten gegeben.“
„Dass man damit immer wartet, bis es Wochenende ist …“
„… an dem ich Bereitschaft schiebe, ich weiß. Aber stell dir vor, der Tote liegt nicht weit von hier. Der Tatort ist hier in Forstenau …“
„Du meinst den Fundort. Mir hast du einmal erklärt, dass der Tote ja nicht unbedingt am Fundort ermordet worden sein muss.“
Hörte ich da eine Spur an Aggressivität in der Bemerkung Lisas? Eine Retourkutsche. Ich sollte bei diesem Thema bleiben!
„Du hast Recht. Der Fundort muss nicht gleich Tatort sein. Du willst nicht wissen, was passiert ist?“
Lisa fuhr sich durch ihre Haare und tat, als sei ich nicht anwesend. Sie fasste die Haare mit beiden Händen und schob sie nach hinten zu einer Art Pferdeschwanz, ohne sie jedoch mit einer Klammer oder einem Band zu fixieren, dann ließ sie sie wieder ins Gesicht fallen und wiederholte den Vorgang. Wortlos!
„Was ist passiert?“, fragte sie