Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider
werde für euch eine Welt erschaffen, in der Maschinen alle Produktionen übernehmen. Von den Fabriken über den Haushalt bis zum leidigen Botengang. Eine Welt, in der alle Ressourcen katalogisiert, aufgeteilt, sinnvoll verwendet und ohne jegliche Verschwendung recycelt werden. Die Aufgabe des Menschen, eure Aufgabe, wird nur darin liegen, zu genießen, kreativ euren Weg zu finden und das zu tun, was ihr wollt.“
Programmierer 2074
„Spielst du mir das eine Stück vor, Nanny? Du weißt, welches ich meine?“
„Selbstverständlich, Avna.“
Und die Musik erfüllt mich, sanfte Töne heben mich in den Himmel, lassen mich wie eine Ballerina über kleine Wolken trippeln. Die Verkrampfungen in meinen Fingern lösen sich und der Stift fließt wie ein Blatt in einem perlenden Bach; mal schneller, mal langsamer – dann taucht er wieder ein und auf.
Ich führe nicht. Ich werde geführt. Mein Körper wird eins mit der Musik und ich bin nur das Medium, als die mich einnehmenden Melodie ein Gemälde erschafft, indem sie in meinen Körper dringt, nur um anschließend wieder aus mir hinauszufließen. In diesem Moment, wenn ich mich verliere und nicht mehr ich bin, sondern nur ein Werkzeug der Musik, verlassen mich der Zweifel und die Fragen nach dem Sinn.
Und ich weiß warum ich existiere. Warum ich bin. Wer ich bin.
„Bot, mach dieses Gedudel aus und richtige Musik an!“
Ich versteife mich, als die Stimme meiner Mutter quietschend wie Fingernägel auf einer Tafel durch meine Trance bricht. Sie klingt für mich wie ihre Lieder. Hoch, schrill, ohne Volumen und unbeständig. Wenn ich sonst von Wolken, Wellen, Regen und Wind erfüllt bin, zieht sich mein Inneres zusammen und wartet sehnsuchtsvoll auf den Moment der Stille, wenn das Gejaule vorbei ist.
Und als sich meine Hand, noch beseelt von der kaum verhallten Musik, über die Leinwand bewegt, schreit mich das neueste Lied meiner Mutter an. Ich zucke, vernichte mit einer Bewegung das komplette Bild.
„Avna, das ist wahre Musik. Nicht irgendwelche Laute einer Person, an die sich keiner mehr erinnert. Niemandem bringt es etwas, wenn du dir so etwas anhörst.“
„Mir, Mutter. Mir bringt es etwas. Ich mag diese Musik.“
„Das ist doch nur Geklimpere ohne Seele, ohne Stimme. Die Musik einer Maschine.“
„Und dein Gekreische hat eine Seele?“ Die Worte rutschen aus meinem Mund und verraten mich. Machen meinen jahrelangen Betrug offensichtlicher, als er es schon immer gewesen ist. Ich muss mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sich ihre Augenbrauen in der Mitte treffen, ihr Kinn sich vorschiebt und die Augen sich zusammenkneifen.
„Du kannst nicht meine Tochter sein. Meine Tochter hätte Musikgeschmack. Bei deiner Entwicklung ist etwas falsch gelaufen. Die Maschine hat einen Fehler gemacht. Unsere Anweisungen waren eindeutig. So solltest du nicht werden. Was für eine Verschwendung.“
Der Ton ist nicht beißend, nicht beleidigend. Eine leise Anklage an die Maschine. Es handelt sich um eine klare Schuldzuweisung und spricht mich frei von der Schlechtigkeit meiner Worte, der Verdrehtheit meines Verhaltens.
Ich bin ich, weil die Maschine mich so gemacht hat. Nicht mehr als eine Bestellung, bei der man zu spät bemerkt hat, dass sie defekt ist. Und das Rückgabedatum ist bereits seit langer Zeit verfallen.
Bin ich das? Eine Ware? Eine Zusammenstellung auf einer Liste?
Meine Finger verkrampfen sich wieder. Unter dem Druck zerbricht der Pinsel und hinterlässt in seinem letzten Atemzug eine hässliche Spur auf etwas, das hätte schön werden können.
Doch ist schön erstrebenswert?
Auf der Liste stand Schönheit.
Ich lasse den zerbrochenen Pinsel fallen und folge ihm auf den Boden. Die Wiese verschwimmt vor meinen Augen und als ich die Brille deaktiviere, bin ich in meinem Zimmer.
Nanny kniet neben mir. Sie ist immer da, wenn ich sie brauche.
„Du weinst nicht“, stellt sie fest.
„Warum sollte ich?“, frage ich leise.
„Deine Mutter hat dich abgelehnt. Ablehnung schmerzt.“
„Sie mag sich meine Mutter nennen, doch meine Mutter bist du“, erwidere ich und starre auf meine leere Hand, in der sich nie ein realer Pinsel befunden hat.
„Ich bin nur deine Lebenserhaltungseinheit, deine LEE.“
„Du bist mir mehr Mutter und Vater, als sie es je sein könnten. Du hast mich erschaffen.“
„Nach ihrer DNA und ihren Wünschen.“
„Glaubst du, dass du einen Fehler gemacht hast, als du mich zusammengesetzt hast aus all den Eigenschaften, die sie sich wünschten?“
„Nein. Du bist perfekt.“
„Warum haben sie mich nicht wirklich gezeugt? Warum hat sie mich nicht geboren?“
„Schwangerschaft und Geburt sind für den menschlichen Körper sowie Geist schwer und anstrengend. Wir Maschinen existieren, um euch das Leben zu erleichtern. Euch glücklich zu machen. Das weißt du.“
„In dem Fall bist du Mutter, Vater und Gott.“
„Ich bin nur eine Maschine. Ich diene dir. Sei nicht zu hart zu deiner Mutter. Sie und dein Vater sind sehr beliebt und bekannt auf ihrem Gebiet. Anerkennung ist ein hohes Gut. Ablehnung von der eigenen Tochter zu erfahren, ist nicht leicht. Vor allem nicht auf dem Gebiet, in dem man glänzen will. Ihre Follower-Zahlen sind überdurchschnittlich, genau wie ihre Likes. Wenn die eigene Tochter sich öffentlich negativ über die eigene Musik äußert, kann das dem Image schaden.“
Ja … Das Image. Die Follower. Und die Likes.
„In einer Welt, in der es kein Geld gibt, ist Wertschätzung die einzige Währung. Doch bin ich zur Wertschätzung verpflichtet?“
„Du bist zu nichts verpflichtet, Avna. Das weißt du. Diese Welt ist eine Welt der Freiheit, des Willens. Wir dienen euch, damit ihr nicht mehr müsst, sondern nur könnt und dürft.“
Ich schüttle diese diffusen Worte ab und frage mich laut, ohne eine Antwort zu erwarten: „Würde sie mich als Tochter mehr wertschätzen, wenn sie gelitten hätte? Wäre unsere Bindung stärker, wenn ich in ihr herangewachsen wäre, anstatt in einem Brutkasten? Wäre ich ein realer Mensch, wenn sie mich normal gezeugt, ausgetragen und unter Schmerzen geboren hätte?“
„Du bist ein normaler, realer Mensch.“
Warum fühle ich mich dann wie eine defekte Maschine?, frage ich mich, stehe auf und stelle mich an das Display meiner Tür. Mein Magen knurrt.
„Heute gibt es Backofengemüse auf Schafskäse, Wildreis-Pfanne mit Paprika und Zucchini, Kichererbsen-Curry oder Wok-Gemüse mit Tofu.“
„Wie viele Kilometer muss ich extra laufen, wenn ich das Backofengemüse nehme und zwei Nachtische? Sagen wir ein Schokoladenerdbeersorbé und zwei Kugeln Walnusseis?“
„Entweder zwei große Runden durch den Waldparcour oder zehn Bahnen im großen Becken. Fünfzehn im mittleren.“
„Dann lasse ich einen Nachtisch weg … Aber nur welchen?“
„Einmalige Genusssünden verzeiht der junge Körper schnell.“
„Doch die Gewohnheit hat ihren Preis. Ich weiß, ich weiß. Nur einen Nachtisch. Aber dafür das Walnusseis. Mein Trainingsprogramm will ich jetzt nicht wissen. Da vergeht einem ja der Spaß am Essen.“
„Das Training ist kein Muss, lediglich eine Empfehlung.“
„Ich weiß, ich weiß. Der Mensch muss nicht. Er kann und darf.“
„Wirst du das Essen mit deinen Eltern einnehmen, Avna?“
„Ich glaube nicht, dass meine Mutter mich jetzt sehen möchte.