Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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      Von Trainer.

      Von Avna.

      Und auch von Noem, jedenfalls auf seine Weise.

      Ich scheine bis aufs Laufen nichts zu können.

      Avna dagegen ist kreativ. Sie hat seltsame, interessante und für mich unverständliche Dinge erschaffen. Meist nur digital, da nur die Profis mit echten Ressourcen arbeiten dürfen. Ich gehe nicht oft in ihre digitale Ausstellung. Doch jedes Mal, wenn ich die Zeit und den Mut finde, sind neue Stücke hinzugekommen.

      Avna freut sich über meinen Sieg. Über meine Erfolge. Warum kann ich mich nicht von Herzen über ihre Entwicklung freuen? Weil sie mir davonrennt? Mich zurücklässt?

      Noem ist schweigsam, was seine Kurse und seine Fortschritte betrifft. Doch die Zeichen, die er sendet, sind großartig. Mein kleiner Drache ist nur die Spitze des Eisberges von vielen kleinen Aktionen. Und er plant etwas Großes, das kann ich in dem Funkeln seiner Augen erkennen, wenn ich ihn sehe. Es ist schon eine Weile da. Ein Teil von mir freut sich darauf herauszufinden, was es ist. Der andere fürchtet den Moment.

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      Noem – Einbruch

      „Durch Fehler kann man nur lernen, wenn Erkenntnis und Einsicht mit neutraler Analyse gepaart werden. Ohne Schmerz, ohne Schuldzuweisung. Was die Menschheit heute durchmacht, in dieser Zeit der Unruhe – geschaffen durch ungerechte Verteilung, durch Habsucht und Korruption, Terrorismus, geboren aus unterschiedlichen Wertvorstellungen sowie Glaubensrichtungen, durch Unterdrückung und Bevormundung –, ist bereits geschehen. Kriege hat es trotz ihrer Schrecken immer gegeben. Ist der Mensch vergesslich? Kann er die Fürchterlichkeiten nicht weiter als drei Generationen tragen? Ein neutrales Archiv, das unbeeinflussbar ist, wird benötigt. Ich kann euch ein System geben, das diese Gräueltaten nicht vergisst und alles tun wird, damit die gleichen Fehler nicht wieder und wieder passieren.“

       Programmierer 2072

      Der Tag ist endlich da. Ich habe Jahre lang so hart für ihn gearbeitet und freue mich darauf, die Früchte meiner Anstrengungen zu ernten. Noch nie ist mir etwas so schwergefallen oder hat so lange gedauert. Ich habe Ideen durchdacht, Programme geschrieben und wieder verworfen. Und nach all der Arbeit, bin ich mir nun sicher, dass es funktionieren wird.

      In meinem Egoismus und meiner Sucht nach Aufmerksamkeit, brauche ich Zuschauer. Menschen, denen ich zeigen kann, was ich geschafft habe, was ich noch schaffen werde. Ich werde die Maschine überlisten. Das Programm umgehen, das unsere Umwelt steuert.

      Ohne dass es bemerkt wird.

      Hierin liegt die Glorie und das Dilemma. Ein Paradoxon, das sich jedoch lösen lässt. Nicht ganz zu meiner Zufriedenheit, aber gut genug, damit mein Ego wachsen und das Gefühl des Erfolges sich einstellen kann.

      Karina und Avna werden mich begleiten. Sie werden Zeugen meines glorreichen Siegeszuges sein und vor Erstaunen und Ehrfurcht in die Knie gehen. Gut, Karina wird nicht in die Knie gehen, aber Avna wird mich sicher voller Bewunderung anhimmeln.

      Ich sage den beiden nicht, was ich vorhabe und nehme sie, ohne zu fragen, mit auf diese Reise. Ich möchte, dass sie sehen, was ich sehe. Und ich rede mir ein, dass ein Geheimnis uns drei für immer verbinden wird.

      Monatelang habe ich an dem Trojaner gearbeitet. Jetzt bin ich nervös. Ich zweifle daran, dass er funktionieren wird und finde plötzlich ein Loch in meiner Mauer des Selbstvertrauens. Der Gedanke daran, was wir mit seiner Hilfe gleich sehen werden, lässt mich schwitzen.

      Die Wartezeit zieht sich in die Länge und ich überlege mir, mich wieder aus dem Chatraum auszuloggen, meine Brille auszuschalten und tief durchzuatmen. Doch das wäre zu auffällig. Meine Nervosität ist Au-pair sicher nicht entgangen und ich darf ihr keine Hinweise darauf geben, warum ich nervös bin. Ihre eigenen Schlussfolgerungen werden ihr Variablen vorspielen und die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit wird registriert werden.

      Ich kenne ihr Programm. Ich weiß, welche Varianten sie verwerfen und welche sie als ihre Wahrheit akzeptieren wird. Es ist ein weiterer Grund für das hier. Für den Gruppenchat.

      Eine Ablenkung.

      Eine Camouflage.

      Eine Beweihräucherung meiner Selbst.

      Der Chatraum ist unauffällig gestaltet. Einfach und ohne Schnickschnack. Viele personalisieren ihre Kanäle thematisch, vor allem ihre Gruppenchats. Ich habe schon vieles gesehen: Eine idyllische Lichtung in einem Wald, ebenso auf dem Gipfel eines Berges. Auf dem Meeresgrund, umgeben von Fischen, Delphinen und manchmal sogar Haien. Ein Zimmer voller Bilder der Chat-Beteiligten. Ein Restaurant. Ein Café.

      Die Möglichkeiten sind zahlreich und bei Menschen wie mir, bei Programmierern, so beschränkt oder unendlich wie die eigene Fantasie.

      Ich habe einen Raum gewählt. Schlicht. Drei Sessel in einem Zimmer umgeben von Spiegeln. Ein Trick, mehr nicht. Eine Ablenkung. Die Spiegelung einer virtuellen Darstellung ist nicht einfach nur eine Spiegelung, sie schafft eine weitere Darstellung. Und wenn die Spiegelungen sich ins Unendliche wirft, wird das Programm die Daten nur schwer voneinander unterscheiden können.

      Solange nichts Außerordentliches passiert, wird sich keiner dieses Chatzimmer näher ansehen. Die Programmierung hat gedauert. Spiegel sind in den Standardfunktionen nicht vorhanden und nicht beliebt, weil sie aufwendig sind und viel Rechnerkapazität fressen.

      Die Oberfläche der Spiegel bewegt sich und wirft Ringe, wie die Wasseroberfläche eines Sees. Avna tritt heraus und ich bin ein wenig enttäuscht. Es wäre schön gewesen, ein wenig Zeit mit Karina alleine zu verbringen.

      Doch Avnas Blick begräbt diesen unwillkommenen Gedanken wie eine Lawine.

      „Oh, Noem! Das ist wunderschön! Ich sehe uns unendlich oft. Es ist wie in einem Spiegelkabinett.“ Sie dreht sich lachend im Kreis und mir wird etwas schwindelig.

      „Das ist noch gar nichts!“, erwidere ich hochnäsig und bade in ihrer Bewunderung. Dann wirft ein Spiegel wieder leichte Wellen und Karina tritt hindurch. Mein Herz schlägt schneller. Ihr Anblick, sei er auch nur virtuell, bringt mich aus dem Konzept.

      Viele ändern das Aussehen ihres Online-Avatars ins Unkenntliche. Einige addieren zu ihrem gescannten Körper Tierattribute, andere verändern das Aussehen, manche sogar das Geschlecht. Doch da ich die Standardprogramme kenne, weiß ich, welcher Avatar ein Fake und welcher echt ist. Außer bei wirklich guten Eigen-Programmierungen.

      Karina und Avna bleiben ihrem Aussehen treu. Karina sind Äußerlichkeiten immerhin nicht wichtig und wenn Avna mit ihren süßen Sechzehn noch schöner wäre, würden meine Augen schmerzen. Karina kann mit Avnas natürlicher Schönheit nicht mithalten. Dennoch hat sie etwas Königliches an sich, das mich anzieht. Sie strahlt Stärke und Kälte aus, während Avna die Personifizierung der Wärme und Weichheit sein könnte – es vermutlich ist.

      Karina sieht sich um. Ihre Begeisterung ist nicht so auffällig wie Avnas. So ist Karina nicht. Doch sie nickt mir ernst zu und es bedeutet mir mehr, als Avnas überschwängliches Kompliment.

      Dann setze ich ihn ein: meinen Trojaner. Unsere Stimmen erklingen ohne, dass jemand ein Wort gesagt hat.

      Avna öffnet den Mund, aber ich lege den Zeigefinger auf die Lippen und sie schluckt ihre Worte wieder herunter. Ich spüre Karinas Augen auf mir, begegne ihrem ernsten Blick und weiß, dass sie etwas ahnt. Ich grinse sie an und dann geht es wirklich los.

      Unsere Avatare, Bilder unserer Selbst in die Chatrooms projiziert, verwandeln sich in etwas anderes, zerfallen zu Daten und werden in eine Richtung gezerrt. Die Daten unseres vermeidlichen Gesprächs wandern ins Archiv. Doch während das Gespräch künstlich ist, verwandeln sich auch unsere Links in Daten und wir werden transferiert.

      Das Erlebnis ist einmalig. Wie auf einer Achterbahn rasen wir durch das virtuelle Netz. Oben ist nicht unten, es ist nicht


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