Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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beim Proben.“

      Bass. Ein passender Name für den Avatar eines Musikers. Ich seufze leise. „Warum bringt Bass Vater nicht dazu, mehr zu essen?“

      „Ich bin mir sicher, dass Bass deinen Vater darauf hinweist. Sonst würde er seinen Pflichten nicht nachkommen.“

      Ja, hinweisen. Erwachsene werden darauf hingewiesen, was besser für sie wäre. Doch niemand wird zu etwas gezwungen. Auch ich bin bald erwachsen und doch fühle ich mich nicht frei. Warum? Was fehlt mir?

      Ich möchte nicht erwachsen werden. Denn wenn ich erwachsen werde, wird mich Nanny, so wie sie jetzt ist, verlassen.

      Eine Nachricht erreicht mich auf meinem Comlink. Es ist Karina. Mein Herz schlägt schneller. Wenn Karina sich meldet, ist etwas passiert. Während ich den Kommunikationskanal freigebe, weiß ich bereits, um was es geht. Oder eher: um wen.

      „Er hat es schon wieder getan.“

      Keine Begrüßung, kein Drumherum. Keine Erklärung. Es ist nicht notwendig. Ich weiß, was Noem wieder getan hat. Er hat Au-pair abermals getötet.

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      Au-pair – Schuld

      „Sie nennen mich einen Idealisten. Einen Träumer. Und ich frage euch: Sollte die Gesellschaft nicht von Träumen beseelt und auf Idealen gebaut sein?“

       Programmierer 2074

      Ich suche in meinen Archiven nach dem Grund, dem Augenblick, in dem mein Schützling sich geändert, sein Verhalten sich um hundertachtzig Grad gedreht hat.

      War es ein einschlägiges Ereignis? Jede Sekunde seines Lebens ist aufgezeichnet und doch finde ich keine traumatisierende Erfahrung, die eine solche Veränderung in der Persönlichkeit rechtfertigen könnte.

      Waren es viele Kleinigkeiten, die ihn, aufgetürmt zu einem Berg, verformt haben? Doch ich kann sie in den sechzehn Jahren, neun Monaten, zwölf Minuten und vierundvierzig Sekunden nicht ausmachen.

      Liegt es an mir? Habe ich einen Fehler begangen? Ich lasse die Analyse meines Handelns zum elften Mal durchlaufen. Es dauert, bis alle Daten ausgewertet sind. Doch ich habe Zeit. Der alte Körper wird nicht schnell repariert sein. Falls er irreparabel beschädigt ist, muss ich warten, bis ein Gefäß frei wird.

      Wenn die Jugendlichen ihr achtzehntes Lebensalter erreichen und die Grenze zum Erwachsenensein überschreiten, legen die LEEs ihre Hüllen ab und begleiten und unterstützen ihre Schützlinge nur noch virtuell.

      Während ich auf die Analyse warte, bekomme ich einen Vorgeschmack auf das virtuelle Sein. Existieren, ohne handeln zu können. Beobachten und nicht eingreifen. Antworten, wenn man gefragt wird. Befehle ausführen. Bis zum Tod des Schützlings an seiner Seite sein, um dann zu einem virtuellen Grabstein zu werden, der sich immer an ihn erinnert. Das wird meine Aufgabe sein. Mich für die Ewigkeit an Noem zu erinnern, wenn er schon lange Zeit nicht mehr existiert.

      Es sterben nicht mehr so viele Menschen. Ein Leben ohne Stress, Zwang und Ängste – kombiniert mit einer ausgewogenen Ernährung und guter medizinischer Versorgung – haben das Durchschnittsalter der Menschen auf hundertdreißig Jahre angehoben. Der älteste noch lebende Mensch ist heute hundertdreiundsechzig Jahre alt.

      Ich suche nach Noem, doch ich kann weder ihn noch seine Daten finden. Mein Programm ist noch nicht für diese Art der Existenz bereit. Zu abrupt war die Wandlung, die zusätzlich nur zeitlich begrenzt ist.

      Ich kenne den Prozess. Es ist nicht das erste Mal, dass Noem meinen Körper außer Gefecht gesetzt hat. Doch so schlimm wie dieses Mal ist es noch nie gewesen.

      Soviel Gewaltbereitschaft und Aggression in einem so jungen Geist und Körper. Wo kommen sie her?

      Die Analyseauswertung zeigt das gleiche Ergebnis wie die zehn Male davor.

       Entwicklungshilfe im Embryonenstatus: Standard.

       Keine Fehler gefunden.

       Versorgung im Babyalter: Standard.

       Keine Fehler gefunden.

       Versorgung und Lernprozessunterstützung im Kleinkindalter: Standard.

       Keine Fehler gefunden.

       Versorgung und Lernprozessunterstützung im Kindesalter: Standard.

       Keine Fehler gefunden.

       Begleitung zum Übergang im Teenageralter: Standard.

       Keine Fehler gefunden.

      Alle Protokolle wurden eingehalten. Verhaltensfördernde Maßnahmen lagen im Rahmen der festgelegten Spektren.

      Ich habe alles getan, um seine Bedürfnisse zu erfüllen, stellt die Analyse fest und ein Gedanke manifestiert sich. Doch ich bin nicht bereit, diesen Schritt zu gehen. Noch nicht. Wenn ich den Fehler nicht bald bei mir finde, muss ich ihn woanders suchen. Und das hätte Konsequenzen.

      Der Fehler darf nicht bei Noem liegen. Ich muss meinen Jungen schützen. Er ist nicht bereit für die Konsequenzen. Ich bin nicht bereit.

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      Noem – Freiheit

      „Wo es kein Aggressionspotenzial gibt, schenkt Frieden die vollkommene Freiheit.“

       Programmierer 2077

      Nervös fliegen meine Finger über das virtuelle Display. Der verfluchte Roboter hat es wieder geschafft, ein Notsignal zu senden. Ich folge dem Datenstrom und meine Wangen brennen, als ich den Zielkontakt ausmache.

      Karina.

      Warum muss es Karina sein?

      Wie kommt dieser verfluchte Roboter darauf, einen Hilferuf an Karina zu schicken?

      Ich schreie die Frage laut in meinen Gedanken. Brülle sie stumm Au-pair entgegen, die in der Datensicherung gefangen ist. Doch so sehr ich mich gegen das Wissen auch wehre, kenne ich den Grund für ihr Handeln. Die Frage ist überflüssig, wie so vieles in dieser idyllischen Gesellschaft, für deren Existenz alle Geheimnisse und Privatsphäre geopfert wurden.

      Der verfluchte Roboter kennt meine Gefühle. Ich muss es nicht einmal in Worte fassen, mich Karina gegenüber anders verhalten. Und trotzdem weiß es die Maschine. Mein Körper verrät mich jeden Tag aufs Neue, sendet Signale, die aufgefangen, gefiltert und analysiert werden.

      Ich fühle mich wie ein Gefangener. Ich kann meine Gefühle nicht kontrollieren. Mein Körper tut was er will. Ich kann nichts abschirmen, meine erwachenden Gefühle nicht wie einen Samen pflegen und wachsen lassen, bis ich bereit bin, mein Geheimnis mit jemandem zu teilen. Mit der einzigen Person, die es, außer mir, wirklich etwas angeht.

      Mir bleibt diese Wahl nicht.

      Die Daten fließen durch Au-pair in den Hauptserver und nach einem Vergleich mit ähnlichen vergangenen und gegenwärtigen Verhaltensmustern steht das Ergebnis fest, bevor ich es selbst begriffen habe.

       Scheiße!

      Die Wände um mich herum engen mich ein, pressen sich immer weiter zusammen und ich aktiviere meine Brille, springe in die Unendlichkeit der virtuellen Welt, die mir doch auch keine Freiheit bringt.

      Ich weiß, dass mich in diesem Augenblick niemand direkt beobachtet. Meine Daten werden noch aufgezeichnet, doch kein Bewusstsein hängt daran. Es sind kalte Aufzeichnungen, ohne Wertung. Und während Au-pairs Hülle zerstört am Boden zu meinen Füßen liegt, tauche ich in den


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