Utopia - Die komplette Reihe. Sabina S. Schneider

Utopia - Die komplette Reihe - Sabina S. Schneider


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„Ich habe dich nicht darum gebeten. Wenn du nicht damit zurechtkommst, wie ich bin und wie ich mich entwickelt habe, sollten wir vielleicht keine Freunde mehr sein.“

      „Es war ein Fehler herzukommen“, sagt Noem, dreht sich um und geht.

      „Versuch‘ niemanden auf deinem Nachhauseweg zu töten!“, rufe ich ihm in meiner Dummheit und meiner Gemeinheit hinterher. Er dreht sich nicht um, erwidert aber: „Du meinst ermorden.“ Dann fällt die Tür hinter ihm zu.

      Ich bin alleine mit Avna. Von Trainer und Nanny abgesehen.

      „Du weißt, dass er sich nur Sorgen macht? Um dich Sorgen macht?“, flüstert Avna.

      „Er sollte sich um sich selbst Sorgen machen. Wenn er sich nicht unter Kontrolle bekommt, werden seine sie Maßnahmen ergreifen, wenn sie eine Gefahr für die Gemeinschaft erkennen.“

      „Noem ist nicht gefährlich! Er ist wütend und sieht in Au-pair das, in was du dich seiner Meinung nach verwandelst“, entfährt es Avna. Sie ist selten so direkt.

      „Du gehst jetzt besser auch, Avna.“

      Avna nickt nur, dreht sich um und verlässt mein Krankenzimmer.

      Ich bleibe zurück und überlege, ob es jetzt anders wäre, wenn ich Hektor nie begegnet wäre. Wenn ich ein anderes Interesse entwickelt und mein Vater nicht an erster Stelle Ehrgeiz geschrieben hätte.

      Natürlich. Natürlich wäre ich jemand anderes. Und ich wäre nicht ich.

      Trainer setzt sich wieder hin. Ich schließe die Augen und träume vom Laufen.

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      Trainer – Ersatz

      „Die Menschheit ist krank. Die Menschlichkeit wird überdeckt von dem Gift der Habgier. Die Menschen, vollgepumpt mit Werbung, finden nur noch für kurze Augenblicke im Konsum Befriedigung. Wir sind so sehr gefangen in dem System von Verbrauch, Konsum und Produkten, dass wir unsere Menschlichkeit vergessen haben und selbst zum Produkt geworden sind. Folgt mir und ich zeige euch, was wahre Menschlichkeit beutet!“

       Programmierer, 2079

      Ich sitze neben dem Bett, in dem Karina sich von den Folgen der OP erholt. Ihr angeschlagener Körper regeneriert sich im Schlaf. Sie spürt ihre Beine nicht und das macht sie unsicher. Ihre biometrischen Daten bestätigen mir, was ich bereits weiß.

      Ich kenne Karina, weiß was sie antreibt.

      Menschen sind schon seltsame Wesen. Sie agieren und reagieren oft irrational. Doch in ihrem chaotischen Handeln, in ihrer Achterbahnfahrt der Gefühle, liegt ein tiefer Kern, ein System, das einmal geknackt, Aufschluss geben kann über ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und ihre Zukunft.

      Karina ist von ihrem Kern getrieben: dem Ehrgeiz. Und alles, was sie davon abhält, das Beste geben zu können, sich immer und immer wieder selbst zu übertreffen, ist gefährlich. Es ist der Feind.

      Selbst, wenn es ihr eigener Körper ist.

      Ich möchte ihr das geben, was sie braucht. Und um ihren Hunger stillen zu können, ihre menschliche Gier nach mehr, die Karina einnimmt und sie ausmacht, zu befriedigen. Wenn ich sie dafür Stück für Stück ersetzen muss, als wären ihre Gliedmaßen Teile einer Maschine, die überholt werde muss – upgegradet –, dann werde ich das tun.

      Und so sehe ich zu, wie sie wieder und wieder in die Werkstatt kommt und ihre Gelenke, Sehnen und sicher bald auch Knochen, Muskeln und die Beine selbst, wie bei einer Maschine, ausgebaut und mit besserem Material ersetzt werden.

      Ein Gedanke beseelt mich dabei: Mit jeder Operation wird Karina mir ähnlicher. Meiner Art. Es ist ein blasphemischer Gedanke, den ich nicht speichern darf, den ich, so gut es geht, überdecke mit Fürsorge, Trainingsplänen und ausdauerfördernden Ernährungsmaßnahmen.

      So wie ich diesem Gedanken keine wahrhafte Form verleihen darf, vermeide ich es, darüber nachzudenken, warum Karina immer wieder Unfälle zustoßen. Ich speichere, ohne Gefühle und Gedanken hineinzulegen, den Sachverhalt ab und passe mein Verhalten den Daten an. Ich verrechne den Energieverbrauch mit der Energiezufuhr. Gleiche das Wachstum der Muskeln und ihre Leistung ab, ihre Verbesserungen. Meine Aufzeichnungen bestehen aus einer akribischen Anreihung von biometrischen Daten über Karinas Körper sowie ihren Fortschritt.

      Es sind so viele. Sie schreien, übertönen das Schweigen der Gefühle, den Grund für die Operationen.

      Wie laut hätten sie schreien müssen, wenn der Junge deutlicher geworden wäre? Was wären die Konsequenzen gewesen? Der Stopp der Operationen? Eine gesicherte Aufbewahrung, um Karina vor sich selbst zu schützen? Das Verbot von Sport?

      Einem Menschen etwas wegzunehmen, das er wie die Luft zum Atmen braucht, ist gegen unsere Programmierung. Doch wenn das Verhalten des Menschen ihn selbst gefährdet, steht die Sicherheit über der Erfüllung von Wünschen?

      Ich kenne die Antwort.

      Es wären theoretische Zahlenkombinationen, rational und in ihrer akribischen Genauigkeit unrealistisch. Karina würde verblassen. Ihr Körper wäre vor ihr sicher, doch ihr Geist würde sterben. Jeden Tag ein Stück mehr. Sie würde zu einer Zimmerpflanze werden, die nur noch existiert und nicht mehr lebt.

      In den Aufzeichnungen kann ich nachlesen, dass Menschen zu Beginn des Projektes sediert wurden, damit sie sich und anderen nichts antun. Erst viele Generationen später, konnte durch Genmanipulation, Verhaltensstudien und Erziehungsmaßnahmen solch selbstzerstörerisches Handeln minimiert werden. Gendefekte, aus denen körperliche und geistige Krankheiten rühren, sind so fast vollkommen eliminiert worden.

      Ich weigere mich zu denken, dass Karina krank ist. Sie erfüllt die Wünsche ihrer Eltern, erzielt Höchstleistungen und überwindet ihre Grenzen auf die einzige Art, die ihr zur Verfügung steht. Karina ist stark, gesund und zielgerichtet. Sie ist perfekt.

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      Avna – Erwachsen

      „Leitung in frühen Jahren, Wertevermittlung, Erziehung und vor allem Leistungs- und Talentförderung sind die Grundpfeiler einer gesunden Gesellschaft mit Zukunft. Ich kann für euch solch eine Gesellschaft formen.“

       Programmierer 2080

      Heute ist der Tag. An meinem achtzehnten Geburtstag wird Nanny verschwinden. Achtzehn Jahre hat sie mich begleitet. Mir Pflaster aufgeklebt, wenn ich hingefallen bin. Mir Essen gegeben, wenn ich Hunger hatte. Mir bei den Hausaufgaben geholfen, wenn ich nicht weiter wusste.

      Es ist nicht so, dass meine Eltern nichts davon gemacht haben. Sie waren zwar oft beschäftigt, doch sie waren auch da. Ich habe gute Erinnerungen an sie. Nanny war immer an meiner Seite, wenn sie nicht da sein konnten.

      Heute wird sie ihren Körper verlassen und zu einem virtuellen Wesen werden, das über mich wacht. Ein letztes Mal bereitet sie mir Essen zu. Und ich bin dankbar. Tränen steigen mir in die Augen, wenn ich daran denke, dass es das letzte Mal ist, dass ich sie anfassen kann. Dass sie mich umarmt und ich sie umarmen kann.

      Ich weiß, dass ich anders bin. Ich weiß, dass meine Bindung zu Nanny stärker ist, als es üblicherweise der Fall ist. Für Noem wird es sicher ein Freudenfest sein, Au-pair endlich loszuwerden. Jedenfalls muss er sich nicht mehr auf eine direkte Weise mit ihr auseinandersetzen. Karina kann meine Gefühle vielleicht eher verstehen. Doch das, was sie an Trainer schätzt, wird sie auch weiterhin bekommen, wenn sie es will.

      Wird sie weiter Pläne von ihm kalkulieren lassen?

      Ich habe schon länger nicht an die beiden gedacht. Seit jenem Tag vor zwei Jahren haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und doch sind sie in


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