Seine Sensible Seite. Amalia Frey
entgegen. Er sah in dem Moment zu mir herüber.
Zehn Minuten später waren wir an der Reihe. Andächtig ging ich über den feuchten Boden, streute Blüten und Erde auf Saschas Sarg und wisperte: »Danke für alles«, und noch leiser hinterher: »Liebes Großväterchen.«
Ich schritt erhobenen Hauptes zu Madelena und Doktor A. »Vielen Dank für die schöne Abschiednahme und vor allem für Ihren Gesang. Ich fühle mich durch all das wirklich etwas leichter ums Herz.« Mühsam rang ich mir für die beiden ein Lächeln ab, das er unbewegt hinnahm und dem sie herzlich nickend begegnete.
»Dass wir uns unter so traurigen Umständen treffen«, entwich es ihr, »Sascha hat viel von Ihnen geschwärmt.«
»Danke«, lächelte ich, »dabei wollte ich doch Sie trösten.«
»Sie haben vermutlich den größeren Verlust erlitten. Ich hatte leider kaum Umgang mit ihm, schon vor der Scheidung und danach nur noch an Geburtstagen. Aber wenn, dann hat er in den letzten fünf Jahren fast immer von Ihnen geredet.«
Ich lächelte ungläubig, jedoch geschmeichelt und reichte dann Doktor A die Hand. Er zögerte, ehe er sie ergriff. »Auch Ihnen mein herzliches Beileid, Doktor Schneid.«
»Ebenso«, sagte er ruhig. Wieder kribbelten meine Finger an seiner weichen, festen Haut. Wirklich nahm ich dieses Prickeln dieses Mal aber nicht für voll.
Sein Gesicht blickte plötzlich fast schon sanft. Als erinnere er sich in diesem Augenblick genau wie ich an die letzten Worte Saschas. »Kinder.«
Ich gesellte mich zu Irma, die mich sofort nach Danni fragte. Zwar war ich irritiert, da die beiden sich erst auf zwei meiner Buchvorstellungen gesehen hatten, gab aber brav Auskunft. Vermutlich war ich an dem Tag zu aufgebracht, um festzustellen, dass meine Verlagskollegin ein Auge auf meine beste Freundin geworfen hatte.
Mein Blick schweifte umher. Überall hatten sich die Trauernden in kleineren Grüppchen aufgestellt, Madelena stand weiter weg und sprach mit Doktor Richter.
Nur Doktor A befand sich noch weiter abseits. Er schlenderte, die Hände in den Taschen, auf und ab. Schließlich hielt er inne, bückte sich zum Gehweg hinab und hob etwas auf, das er dann ins Gras setzte. Ich kniff die Augen zusammen und erspähte wie ein Luchs: Es war eine Schnecke.
°°°
Ich fand mich kurz darauf am Nordbahnhof wieder und stieg die Treppen hinab zum S-Bahn-Gleis. Nach Hause wollte ich nicht, aber ich wollte für mich sein. Nachdenken. Dumm rumfahren. Auf einmal spürte ich eine sehr warme Hand an meiner Schulter und wirbelte herum. Doktor A war mir gefolgt. Aus irgendeinem Grund wunderte mich das nicht.
»Frau Lux, darf ich Sie nach Hause bringen?«
»Danke, aber ich fahre nicht nach Hause.«
»Kann ich sonst etwas für Sie tun?«
Außer aufzuhören, mich zu nerven, meinen Sie? Doch ich biss mir auf die Zunge. »Nein, Sie brauchen mich nicht zu trösten. Doktor Schneid, gehen Sie und lassen Sie sich selbst von Ihrer Frau trösten.«
»Exfrau. Und sie wäre nicht in der Lage, mich zu trösten.«
Meine Bahn fuhr ein. »Ich muss dann.«
»Bitte, Frau Lux …«
Ich sah ihn überrascht an. Er hatte wieder diesen Blick wie neulich am Sterbebett seines Vaters. Bebend entwich ihm: »Sie sind der einzige Mensch, der meinen Schmerz nachvollziehen kann.«
Traute ich meinen Ohren richtig? Im nächsten Moment wurde mir klar: Was er da sagte, stimmte. Entgegen meiner Abscheu griff ich nach dem Ärmel seines Jacketts und zog ihn in den Waggon, der kurz darauf seine Türen zuschlug.
»Ich habe kein Ticket«, japste er.
»Schon gut, Sie fahren bei mir mit.«
Alle Sitze waren belegt, weswegen wir uns in die Mitte des Wagens auf diese beweglichen granitartigen Dinger vor die Karte des S-Bahn-Netzes stellten. Ich lehnte an der Wand, er stand vor mir. Wir schwiegen. Auf eine unheimliche Weise fühlte es sich gut an. Doktor A hatte recht: Vermutlich empfanden wir beide ähnlich starke Gefühle der Trauer. Wir mussten nicht reden. Wir sahen einander stumm an.
Beredtes Schweigen.
Die S-Bahn rappelte durch die weiten, langen Schächte. Am Bahnhof Friedrichstraße stieg eine Horde Tourist*innen ein. Schlagartig wurde der Waggon so voll, dass Doktor A und ich aneinandergepresst wurden. Noch immer schwiegen wir und sahen uns an. Wenngleich seine Lippen wie sonst auch einen graden Strich bildeten, blickten mich seine Augen warm und freundlich an. Diesen Blick hatte Sascha ihm vererbt.
Völlig von Sinnen kam mir wieder all die Trauer hoch, und ich senkte den Kopf, spürte, dass Doktor A sofort ein Stück näher zu mir kam. Dann lehnte ich meine Stirn an seine Schulter, meine Beine ließen nach. Mit einer Hand hielt er sich an der Stange fest, die andere umschloss mich schützend. Noch enger schmiegte ich mich an ihn, fühlte seine Lippen auf meinem Schopf. Doch er küsste mich nicht. Sein Mund ruhte dort, er atmete ruhig durch die Nase, was ich trotz meiner dicken Locken an meiner Kopfhaut spürte.
Wir klammerten uns aneinander, fern jeder Gewohnheit, bar jeden Hassgefühls. Ich war so traurig, dass ich sogar die Wärme dieses Menschen dankbar annahm. Gedankenverloren schloss ich die Arme um seinen schlanken, festen Oberkörper. Hitze verströmte dieser Typ, und als mir klar wurde, dass mein Leib sie auch entgegennahm, da wusste ich, dass ich ihn nicht so sehr verachten konnte, wie ich all die Wochen angenommen hatte. Vielleicht wollte ich in dem Moment einfach nicht hassen. Mir war alles recht. Ich wollte, dass es aufhörte, die Trauer.
Der scheußliche Klumpen, der in mir schmerzte, sollte weggehen. An den Körper des einzigen Menschen auf der Welt, der das Gleiche wie ich empfand, geschmiegt zu sein, machte es erträglich.
Wunderschön. Wunderschön. Wunderschön. Wunderschön.
»Hier müssen wir raus, meine Umweltkarte reicht nur für den AB-Bereich«, sagte ich leise, als die Tourist*innen nahe Wannsee in Richtung Ausgang drängten. Obwohl das Abteil viel leerer geworden war, hatten Doktor A und ich noch immer dicht beieinandergestanden. Als ihm das gewahr wurde, schnellte er zurück. Nun erst sah ich sein Gesicht wieder. Wenngleich er nicht lächelte, blickten seine Augen liebevoll, seine Züge schienen entspannter. Wir folgten der Meute und standen dann eine Weile schweigend auf dem S-Bahngleis. Abwesend fragte ich: »Was ist mit Ihrer Frau?«
»Exfrau«, wiederholte er.
»Ja, gut: Haben Sie Ihre Exfrau einfach dort stehen gelassen?«
Ich versuchte, ihre Frage einzuordnen. Wie kam sie denn jetzt darauf? Weswegen musste sie ausgerechnet das Thema Madelena anschneiden? Sollte ich ihr begreiflich machen, dass zwischen uns beiden nichts mehr war?
Er sah mich komisch an und gab zurück: »Sie ist erwachsen, ich brauche nicht auf sie aufpassen.«
»Natürlich nicht.« Weswegen gängelte er mich? Warum kehrten wir jetzt auf diese Ebene zurück? Als würde er uns mit allen Mitteln davon abhalten, uns näherzukommen. Dabei hatte ich mir bis vor fünf Minuten vorstellen können, mich doch noch mit ihm anzufreunden. »Ich frage nur, weil Sie zusammen mit ihr ankamen, also ist davon auszugehen, sie sei Ihre Begleitung.«
Was für eine scharfe Beobachterin … ruhig, Junge, nicht den nächsten Fauxpas. Sie sieht schon wieder sehr irritiert aus.
Dabei war es bis eben so angenehm. Mach das nicht kaputt.
Ich versuchte, sanft zu klingen: »Madelena ist mit den Autoren mitgegangen, die noch auf meinen Vater anstoßen wollten. Als ich sah, dass Sie nicht zu ihnen zählen …«
Was ist mit seiner Stimme los?
»… bin ich Ihnen gefolgt.«
»Warum?«
Natürlich