Seine Sensible Seite. Amalia Frey
Papiere heran.
Derweil meine Augen über die Zeilen flogen, verschwand die Müdigkeit, der Kopfschmerz. Ich wusste, wenn ich mich nur konzentrierte, würde dieses miese Gefühl in mir nachlassen. Als Mutter starb, hatte es geholfen, fleißig in der Schule zu lernen, an Aktivitäten der hiesigen Vereine teilzunehmen, mich abzulenken. Und als Madelena die Scheidung einreichte, half es mir, mich noch mehr in meine Arbeit zu stürzen. Neun Jahre war unsere Trennung inzwischen her. Es war so befreiend gewesen, niemandem mehr Rechenschaft ablegen zu müssen. Aber es dauerte eine ganze Weile, bis ich es mir abgewöhnt hatte, ein beißendes Gefühl im Nacken zu verspüren, wenn ich 3:00 Uhr nachts im Büro auf die Uhr sah. Noch immer stellte ich mir damals Madelena vor, wie sie zu Hause auf unserem Sofa saß, ihre nackten wunderschönen Füße auf dem niedrigen Tisch, und ein Buch las, um nicht einzuschlafen. Um mich zu erwarten. Das hatte sie lange Jahre getan. Irgendwann in unserer Ehe hatte sie aufgehört, zu streiten, wenn ich nach Hause kam. Dann aufgehört zu weinen, weil sie mich tagelang nicht gesehen hatte. Und irgendwann kam ich schon um 22.00 Uhr nach Hause und sie lag schlafend im Bett. Schließlich hörte sie auf, mich zu vermissen, meine Anwesenheit zu schätzen, und ganz zum Schluss, küsste sie mich nicht mehr, wenn wir uns begrüßten. Erst da war mir aufgefallen, wie lange wir nicht mehr ... obwohl wir es doch so gerne getan hatten.
Der eine Morgen etwa ein halbes Jahr vor unserer Scheidung kam mir in den Sinn. Wie so oft hatte ich nicht tief geschlafen, bemerkte Madelenas unruhige Bewegungen. Als die Sonne die ersten Strahlen durch die Ritzen der Jalousie warf, lag ich wach und betrachtete ihr schlafendes Gesicht. Mir wurde klar, wie sehr ich sie vermisste. Ich rutschte etwas näher an sie heran und sie drehte sich instinktiv von mir weg. War sie wach? Sie lag bewegungslos, ehe zwanzig Minuten später der Wecker piepte. Murrend stellte sie ihn ruhig und erhob ihren Oberkörper. Ein schwarzes enges Hemdchen und ein passendes Schlafhöschen bedeckten ihren zierlichen Körper. Sie streckte sich im Sitzen, fuhr sich durch das lange, weiche Haar. Bei dem Anblick wurde ich schlagartig noch erregter und wagte den ersten Schritt. Zaghaft strich mein Finger über die Linie ihrer Wirbelsäule, sie zuckte zusammen. Unverkennbar ihre Haltung: Fass mich nicht an! Ich dachte, sie würde mich ansehen und mir irgendwas auf Russisch entgegenfauchen. Doch sie tat etwas Schlimmeres, als diesem Zorn Luft zu machen: Sie blickte sich nicht einmal zu mir um, sondern erhob sich aus dem Bett, als sei ich nicht existent, und verschwand ins Bad.
Die Türglocke riss mich aus meinen Gedanken. Ich betätigte den automatischen Öffner und Herr Bär, mein Berliner Fahrer, trat ein. Zum Glück war er wie immer überpünktlich, denn ich war viel zu spät dran. »Na sowas, Doktor Schneid«, wunderte er sich, als er ins Zimmer trat und mich mit offenem Hemd und barfuß antraf. Ich schnellte hoch, stotterte dümmlich, dass ich noch duschen müsse.
»Janz mit de Ruhe. Ik pack' Ihre Sachen zusammen, wenn se erlauben, und Sie machen sich frisch.«
Ich nickte ihm zu und ging ins Bad. Es waren keine wirklich geheimen Dokumente, und bei Herrn Bär wusste ich außerdem, dass er nicht draufschauen würde. Als ich mit einem Handtuch um die Hüften aus dem Badezimmer stolperte, stellte ich fest, dass er etwas unbeholfen im Raum stand und bereits meine dicke Aktentasche und die übrigen Mappen unter dem Arm trug.
»Setzen Sie sich einen Moment«, sagte ich, »lesen Sie was.«
Er deutete einen Diener an und ging hinüber zum Sofa. Als ich kurz darauf fertig angezogen ins Zimmer trat, saß er da und las das SZ-Magazin, das seit einer Ewigkeit in meiner Wohnung lag. Das mit dem »Sagen-Sie-jetzt-nichts: Austen Lux« Interview. Herr Bär sah mich über seine Brille hinweg an. Ich wusste, dass er wusste, wer sie war, wie Vater zu ihr gestanden hatte, dass diese Zeitung schon über ein halbes Jahr alt war und dass ich normalerweise keine irdischen Dinge wie Zeitschriften aufhob. Aber er sagte kein Wort, sondern erhob sich höflich, nahm Tasche und Akten unter die Arme, um mir dann auch noch den Rollkoffer abzunehmen und folgte mir zur Wohnungstür.
°°°
»Scheiße, Austen, siehst du scharf aus!«, verkündete Danni, als ich direkt von meiner Abenteuerfahrt nach der Beerdigung vor ihrer Wohnungstür stand. Ich wusste, dass sie zwei Stunden später ihren Dienst als Nachtportier würde antreten müssen, aber nach diesem seltsamen Tag war mir sehr danach, mich etwas von ihr berieseln zu lassen. Sie wusste wohl, dass ich ein Trauergewand trug, dass ich die letzten Tage fix und fertig vor mich hingedöst hatte.
Aus alledem machte sie keine große Sache. Sie lobte unentwegt mein Aussehen, quasselte über die Dinge, die sie gerade beschäftigen, von ihren Kindern, zeigte mir Shopping-Errungenschaften. Sie fragte mehr als zweimal, ob ich mich mit Adele und Joschua voll autorinmäßig hatte unterhalten können, ob sie vielleicht mehr lesen sollte, um mich als Freundin zu halten, und strich mir immer mal über den Unterarm. Außerdem erzählte sie irgendwas davon, dass es Bianca und Benjamin in den letzten Tagen zu bunt getrieben hätten mit ihren ständigen Eifersüchteleien, und sie deswegen ihre Nummer für sie gesperrt hatte. »Notfalls erwirke ich eine einstweilige Verfügung, ist mir scheißegal, ob ich dann Überstunden machen muss, damit meine Kinder was zu beißen haben. Solche Psychos will ich nicht mehr in meinem Leben haben!«
Ich war in dem Moment nicht imstande, ihren entschlossenen Tonfall einzuordnen, denn sowas in der Art hatte sie schon häufig angedroht. Mir war nicht bewusst, wie ernst es ihr dieses Mal war.
Ich gluckte einfach nur auf ihrem Sofa, stierte im Zimmer umher und lauschte ihr mit einem Ohr. Mein Blick heftete sich wie so oft an den Artikel über mich im SZ-Magazin, den Danni gerahmt und aufgehängt hatte. »Scheiße siehst du da hammergeil aus«, hatte sie damals befunden und ich ihr recht gegeben. Die schwarz-weißen Bilder zeigten mich und mein mageres Gesicht und Körper in hautenger Kleidung kurz nach der Vollendung meines vierten Buches »WEITER WEG«.
Ich sah viel älter aus, hatte mein dereinst langes, chemisch geglättetes Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt und reagierte auf die Fragen mit koketten wie auch überlegenen Körperhaltungen. Mein Antlitz lag nach der Anstrengung des Schreibens über meine Trennung in herberen Falten als normal, die sich erst Wochen später legten, und die ich den Visagisten zu überschminken verboten hatte. Sie waren meine Kriegsnarben. Offenbar hatte das landesweit viele Frauen beeindruckt, ich sah einen Teil meiner Mission erfüllt: Trage dein Lebensalter mit Stolz. Obwohl ich erst 29 war, wirkte ich so abgemagert und ausgelaugt, dass ich gut und gerne auf 45 hätte geschätzt werden können. Nach dem Interview gönnte ich mir einen Trip quer durch Norwegen mit Woolf an meiner Seite. Wir wanderten durch die Wälder und Täler, fischten in blaugrauen Gewässern, kraxelten auf feuchten Gebirgsketten umher und genossen die Abgeschiedenheit.
Danach fuhr ich mit Danni für eine Woche auf eine Schönheitsfarm, ehe ich strahlend schön und gestärkt zur Buchpremiere erschien und die Welt mit meiner wiedergewonnenen Jugend erschütterte. Und meinen Exfreund, was mir in dem Moment leider am wichtigsten war.
Die Türglocke riss mich aus meiner Erinnerung und Danni aus ihrem Geplapper. Das war ihr Kollege Ralf, mit dem sie die Nachtschicht zusammen durchstand, und der sie nun abholte. Danni hatte mich die ganze Zeit vollgetextet, wohl wissend, dass es genau das war, was ich gebraucht hatte. An der Tür drückte sie mich dann zärtlich und hauchte in mein Ohr: »Geht’s dir besser, Schätzchen?«
»Ja, ich danke dir, Liebelein.« Ich lächelte müde.
Zu Hause schlief ich ein, ohne mein Trauerkleid abgelegt zu haben, und wachte erst auf, als Duft nach starkem Kaffee die Wohnung erfüllte.
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