Seine Sensible Seite. Amalia Frey

Seine Sensible Seite - Amalia Frey


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ehe ich fortfahren kann.«

      Sie umklammerte einen USB-Stick. Ich musste irgendetwas tun, um ihr zu helfen. »Vielleicht kann ich sie beantworten?«

      »Es geht um das Genre. Sascha muss das entscheiden.«

      »Wieso Genre? Das wird seine Biografie.«

      »Ich könnte so viel mehr daraus machen …« Tränen stiegen ihr in die Augen. Ich hasste es, wenn jemand weinte.

      »Vielleicht kann ich … Er hat mir all seine Verfügungen übertragen«, entgegnete ich ruhig.

      Sie rang sichtbar um ihre Worte und sagte dann: »Ich würde gerne … einen Roman daraus machen.«

      »Inwiefern?«

      Momentan war ich so verzweifelt, dass ich sogar seinen Rat angenommen hätte. Ich reichte ihm den Stick. »Bitte, das ist der rote Faden. Möchten Sie sich das ansehen, und dann reden wir?«

      Ungläubig nahm ich den USB-Stick an. Hatte mir gerade eine Autorin ihr völlig ungeschliffenes Werk gegeben? Ein warmes Gefühl stieg in mir auf.

      »Ich fahre jetzt in meine Kanzlei. ... Ich rufe Sie an, wenn ich es gelesen habe.«

      Ich fummelte eine Visitenkarte hervor und gab sie ihr.

      Austen nahm sie entgegen, ohne genauer hinzusehen.

      »Danke, Doktor Schneid.«

      Im Gegenzug riss sie einen Zettel aus ihrem Notizblock und schrieb hastig ihre Telefonnummer auf, um sie gegen meine Karte zu tauschen. Austen Lux gibt mir ihre Nummer. Dann gaben wir uns wieder die Hände.

      Was nur war das? Wieso kribbelten meine Fingerspitzen, wenn ich ihn berührte?

      Ihre filigranen Finger an meiner Haut zu spüren, elektrisierte mich noch mehr als gestern. Dazu der Unterschied, ihre schlanke braune Hand in meiner kalkweißen, viel Größeren. Sie war zart und doch so stark. Mit aller Mühe behielt ich meinen Gesichtsausdruck bei.

      Warum guckt er jetzt wieder so wütend?

      °°°

      Auf der ganzen Fahrt tobte Euphorie in mir. Was plante sie? Was meinte sie mit Roman? Vielleicht war dies meine Gelegenheit, ihr zur Hand zu gehen. Ihr näherzukommen.

      Was denkst du da? Diesen Gedanken verwarf ich natürlich umgehend und atmete durch. Das warme Gefühl in mir wollte sich jedoch nicht beruhigen. Für einen Moment genoss ich es.

      Als ich ins Büro kam, steckte ich den Stick sofort ein und öffnete ungeduldig die Datei. Was ich sah, waren Stichpunkte über die Lebensgeschichte meines Vaters. Sie hielt sich sehr an der Kindheit auf. An sein Aufwachsen als ungeliebter Bastard. Die Vater-Sohn-Beziehung sollte offenbar aufgerollt werden, die Rolle der Mutter als beschwichtigende Vermittlerin. Saschas Wille immer ein guter deutscher Junge sein zu wollen. Mir stellen sich die Nackenhaare auf. All das hatte er ihr erzählt? Über die meisten Dinge hatte er mit mir nicht einmal gesprochen. Ich hatte sie mir mein Leben lang dank Andeutungen und Geschichten von Verwandten zusammenreimen müssen. Dann die Liebe zu Adelheid. Die große Liebe, die er beschützen wollte. Sein kränkelnder Schatz.

      Meine Person wurde nur gestreift. Es folgte Saschas Trauerarbeit beim plötzlichen Tod seiner Frau.

      Was erlaubte sie sich? Nicht mal Mutters Unfall zu erwähnen?

      Ich spürte, wie immer mehr Wut in mir aufstieg. Das war nicht die Art von Biografie, die wir alle geplant hatten. Frau Lux gedachte, sich in Vaters Kopf zu setzen und alles noch einmal zu erleben. Darum wollte sie einen Roman schreiben. Sie wollte seine Gefühle analysieren, die Gesellschaft spiegeln, Rollenvorstellungen entlarven. Und dann las ich den letzten Stichpunkt: Vater-Sohn-Beziehung Sascha/Alexander – inwieweit wiederholt sich die Geschichte? Lässt der Vater seine Erfahrungen das Kind spüren? Woher stammt all die Wut in beiden?

      Schlagartig trat dröhnender Kopfschmerz hinter meine Stirn. Meine Faust schlug auf die Tischplatte, im nächsten Moment schoss ich nach oben. Was erlaubte sie sich?

      Ohne zu wissen, was ich tat, griff ich zum Telefon. Es klingelte nur einmal, dann hob sie ab. »Hallo?«

      »HABEN SIE VÖLLIG DEN VERSTAND VERLOREN? Wie um alles in der Welt kommen Sie dazu, die Geschichte meiner Familie für Ihre Zwecke zu verschandeln? Wer hat Sie denn zur Therapeutin ernannt? ICH WARNE SIE …«

      Klick.

      Mit dem Tuten endete mein Gebrüll. Frau Lux hatte aufgelegt. Da wurde mir gewahr, wie laut ich gebrüllt haben musste. Die Silhouetten der Damen, die vor meinem Büro gearbeitet hatten, waren erstarrt. Erst als ein paar Sekunden lang Ruhe herrschte, bewegten sie sich hinter der Milchglasscheibe wieder. Langsam und konfus. Ich spürte, dass mein ganzer Körper zitterte. In der Leitung tutete es immer noch. Völlig geschlagen ließ ich mich auf meinen Sessel fallen, atmete tief durch, ehe ich endlich das Telefongespräch beendete und mich für einen Moment zurücklehnte.

      °°°

       Ganz ruhig, Lux. Du weißt: Erwachsen bist du erst, wenn du dich den unangenehmen Situationen des Lebens stellst. Doktor A nun gegenüberzutreten ist Masterchallenge! Und wie sehr hasse ich es vor allem, wenn mich weiße Dudes anschreien. Ich ziehe in den Krieg, doch ich wappne mich, fahre meine Schutzschilde aus. Und ich werde Wunden davon tragen, aber verdammt nochmal, ich werde auch Opfer fordern.

      Ruhe füllte nun meinen Geist, obgleich ich vor Wut zitterte. Nachdem ich aufgelegt hatte, stieg ich gleich aus der Bahn aus und auf der gegenüberliegenden Plattform wieder ein, um zurück in die Innenstadt und dann nach Halensee zu fahren. Ich war dermaßen angriffslustig, dass ich einem weißen Pöbler zuvorkam, der mich gerade dumm anmachen wollte. Normalerweise ignorierte ich sie, stellte die Musik lauter und ging weg, wenn ich die Situation als bedrohlich ansah. Je weiter ich mich von Mitte entfernte, desto öfter kam ich in ebensolche. Vermutlich wurde ich im Stadtkern eher für eine Touristin gehalten. Mit dem Schlaufon war es ein Leichtes gewesen, die Route zu Doktor As Kanzlei zu finden. Ich erblickte sofort das Bürogebäude am Kurfürstendamm Ecke Katharinenstraße. Unverkennbar der großtuerische Bau, polierter dunkler Marmor, eine runde Treppe mit drei Stufen. Tief atmete ich durch und betrat das Gebäude. Das Innere war klischeehaft, steril und minimalistisch eingerichtet. Den Empfangsbereich schmückte ein riesiger Tresen aus dunklem Holz, an dem eine sehr junge Türkin saß, die aufgeregt telefonierte. »Beruhige dich, Kim. Weißt du wirklich nicht, warum er so gebrüllt hat? Oh, ich wüsste ja zu gerne ...«, dann registrierte sie mich und begrüßte mich freundlich.

      »Doktor Schneid erwartet mich«, log ich gekonnt. Das Mädchen bekam Kulleraugen, und ohne nachzudenken, sagte sie: »Dritter Stock, das große Zimmer am Ende des Ganges. Wen soll ich anmelden?«

      »Geht schon, ich habe eben erst mit ihm telefoniert.« Ich zwinkerte ihr zu und ihr fielen fast die Augen heraus.

      Sein Büro war unverkennbar. Am Ende des Flurs hob sich eine Doppeltür aus Milchglasscheiben ab, links und rechts die Büros seiner Assistentinnen. Die Mädels im Vorzimmer schlichen umher wie Katzen nach einem Gewitter. Als sie mich sahen, bekamen sie kein Wort heraus. Ihre Blicke sprachen zwar: Da solltest du jetzt lieber nicht reingehen. Doch ich ignorierte sie geflissentlich. Sie wussten offenbar dank der Empfangsdame schon, wer ich war, und hätten mich vermutlich mit vollem Körpereinsatz zurückgehalten, wäre mein Blick nicht so unverkennbar streng gewesen. Ich klopfte nicht, sondern trat ein und ließ die Tür hinter mir offen.

      Da saß er, offensichtlich hatte er sich seit unserem Telefonat nicht bewegt, und als er mich erblickte, zuckte er zusammen. Dann schoss er hoch. Noch bevor er Luft holen konnte, donnerte ich: »Den Stick bitte!«

      »Halten Sie sich aus meinen Familienangelegenheiten raus.«

      »Ich sagte, Sie sollen mir meinen roten Faden geben!«

      Brüskiert zog er ihn vom USB-Hub ab und reichte ihn mir nahezu zärtlich.

      »Danke. Und nun muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater mir seine Geschichte nicht ohne


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