Seine Sensible Seite. Amalia Frey
richtig angefühlt hatte.
»Aus keinem bestimmten Grund.«
Sie blickte ungläubig.
Einer Intuition folgend setzte ich nach: »Sie waren da, als er starb. Dafür wollte ich Ihnen danken. Nochmal!«
Austens Gesicht hellte sichtlich auf.
Das ist dann wohl die Seite, die er verbergen will …
Sie reichte mir ihre Hand: »Schließen wir Frieden, Doktor Schneid?«
Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen und fasste ihre filigranen Finger so vorsichtig wie möglich.
Wow, er kann ja richtig schön lächeln!
»Frieden«, sagte er zärtlich und plötzlich jagte mir ein angenehmer Schauer über den Rücken.
Seine großen, warmen Hände, seine tiefe, sanfte Stimme und seine leuchtenden, klugen Augen ließen mich offenbar alles andere als kalt. Das also war es, was mein Körper ausströmte, wenn wir uns berührten. Es war immer wieder erstaunlich, auf wie vielen Ebenen der Mensch doch funktionierte. Doktor A und ich waren so weit voneinander entfernt, was Interessen, Alter, Lebensgewohnheiten, Rollenvorstellungen und letztlich auch den gesellschaftlichen Stand anging. Aber die triebhafte Basis, die Begegnung eines begehrten Körpers, rief in mir Reaktionen hervor. Meine biologischen Instinkte nahmen ihn offenbar als ebenbürtigen Partner, als paarungsgeeignet, wahr. Ich lächelte vor mich hin über diese Erkenntnis. Natürlich reagierten meine weiblichen Empfindungen auf ihn. Er war ein Alphatier, wie es im Buche stand: gesund, groß, stark, vermögend, einflussreich und zudem weltgewandt.
Doch zum Glück gehörte für mich einiges mehr dazu, mich auf jemanden einzulassen. Reiche, gebildete und kreative Männer liefen mir in meinem Gewerbe zuweilen öfter über den Weg, und auf viele davon sprangen meine sexuellen Triebe an. Darüber war ich erhaben. Ich war eben auch ein Alphaweibchen, wie es im Buche stand: Ich paarte mich nicht mit jedem, der einfach nur gut war – ich bevorzugte die Besten. Und das Beste war für mich: Liebe!
Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen. Reiß dich zusammen!
Auf der Rückfahrt saßen wir uns schweigend gegenüber. Ich hatte gehofft, er würde sich für seinen jüngsten Ausbruch entschuldigen. Doch er ruhte dort in einer Haltung tiefen Sinnens. Mir war schon lange klar, dass dieser Mensch zu weit oben war, um von gesellschaftlichen Normen Gebrauch zu machen. Er war über soziale Gepflogenheiten weitestgehend erhaben. Anerkannte zwischenmenschliche Gewohnheiten, wie zum Beispiel seine Mitmenschen hin und wieder freundlich anzulächeln oder sich wenigstens ab und an für seine Fehler zu entschuldigen. Er hatte gewiss keinen Kund*innenumgang in diesem Sinne; er hatte Klient*innen. Solche, deren Gesichter er vermutlich auch nicht oft sah. Es war davon auszugehen, dass sich seine Welt kalt und bitter zeigte, also hatte er sich in all den Jahren angepasst. Er lebte davon, gefürchtet zu werden. Darum lächelte er nie, blickte stets finster drein und wahrscheinlich war er die meiste Zeit schlicht so wütend, wie er guckte. Dabei hatte er wirklich ein hübsches Gesicht.
Unmerklich schmunzelte ich über mich selbst. Ich hatte zwischendurch oft über ihn nachgedacht. Mein Autorinhirn hinterfragte gerne, wollte wissen, welchen Weg ein Charakter einst genommen hatte, um an diesem Punkt des Lebens zu stehen. Doktor A war, das musste ich mir eingestehen, eine Untersuchung wert. Holterdiepolter hatte ich in den wenigen Wochen Einiges über ihn erfahren, was vermutlich nicht einmal Menschen wussten, die ihm weitaus näher standen. Höchstwahrscheinlich fühlte er sich auch deswegen von mir bedroht. Er hatte die ganze Zeit aus dem Fenster gesehen, die Augen vor Trauer rot unterlaufen, die Hand vor seinem Mund. Dieser Mann war stets gut angezogen, anscheinend wurde er professionell eingekleidet, sein blondes Haar war akkurat und sehr kurz geschnitten und verlieh seinem markanten Gesicht zusätzliche Härte. Als würde all dies nicht schon seriös und gleichfalls einschüchternd wirken, wurde seine Stirn etwa mittig von dieser Ader geteilt, ganz so als sei sie sein Wut-Pendant zu meiner Denkfalte. Nun begegnete er meinem Blick, mit dem ich sein Aussehen abgetastet hatte. Ich lächelte ihn ein wenig an in der Hoffnung, seine Lippen heute nochmal freundlich zu sehen, aber er blickte nur irritiert.
»Was ist?«, fragte er doch tatsächlich.
»Nichts, ich lächle nur.«
»Weswegen?«
»Ich brauche dazu selten einen Grund, Doktor Schneid.«
Ihre Antwort verwirrte mich erst recht. Hatte ich was im Gesicht? Sah sie mich schon länger an? Ich hatte die letzten Minuten damit verbracht, aus dem Fenster zu sehen, um nicht Gefahr zu laufen, sie anzustarren. Aber sie schien mein Anblick eher zu amüsieren. Verstohlen ließ ich meine Augen über ihr Kleid schweifen. Egal ob sie wie heute elegant, wie kürzlich sportlich in diesen verboten kurzen Hosen oder beim ersten Treffen, als sie hippiemäßig unterwegs gewesen war – ihr Stil ließ sich zweifelsohne als geschmackvoll bezeichnen. Diese Gabe, schöne Dinge aufeinander abzustimmen, schien so manchen Frauen gegeben. Es blieb mir von jeher ein Rätsel, wie meine Sekretärinnen es anstellten, ihre Utensilien, die Möbel und die Ablage, so zu organisieren, dass alles neben Funktionalität auch noch Ebenmaß erfüllte. Wie hatte Madelena es damals geschafft, unsere Wohnung so einzurichten, dass ich ein Gefühl der Heimeligkeit verspürte, das ich nur von meinem Elternhaus her kannte? Und das hatte meine Mutter eingerichtet. Und woher um alles in der Welt wusste meine Herrenausstatterin, welche Nuancen meinem kalkigen Teint schmeichelten? Jedes Mal aufs Neue wollte sie mir farbige Hemden, gewagtere Krawatten oder gar bunt abgesetzte Anzüge schneidern lassen. Schockiert hatte ich dank ihr schon oft festgestellt, dass mir warme, kräftige Töne standen, mich jedoch dagegen gesträubt, mich an diesem neuerlichen Wahn zu beteiligen – die Idee meiner Geschlechtsgenossen Farbe zu bekennen. Ich wusste nicht, warum, aber alles in mir begehrte gegen den Gedanken auf, jemals lila oder sogar rosa zu tragen! Vater würde sicher …
Nun erst wurde mir bewusst, dass ich das erste Mal seit zehn Tagen über etwas anderes nachgedacht hatte als ihn. Und dann auch noch über so lapidare Dinge. Lag das an der Gegenwart dieser Frau? Ich sah ihr ins Gesicht, sie erwiderte den Blick im selben Moment. Er traf mich mitten ins Herz. Was war das, was nur hatte sie an sich, dass mich so … Ja, was eigentlich?
Warum guckt er jetzt wieder so wütend?
Hilflos? Entwaffnend? Gleichzeitig befreiend. Herrgott, Junge, was läuft hier gerade schief? Du begegnest tagtäglich gebildeten, eleganten und charakterstarken Frauen. Gewiss, Frau Luxens Klasse war mit Madelenas zu vergleichen, auch wenn ihr das wohlmöglich nicht einmal bewusst war. Sie war in ihrer Welt, schien nach eigenen Regeln zu spielen. Es war ihr so völlig egal, was andere von ihr hielten.
Sie war … frei! Frei von alledem, frei von dem Zwang, jemandem gefallen zu wollen. Und das hatte Vater so verdammt an ihr gemocht. Ich höre noch immer seine Worte: »Das ist ein prächtiges Mädchen, Junge. Immer neugierig, immer voller Energie. Ich wünschte, ich könnte mich von allem mitreißen lassen.« Und dann hatte er nachgesetzt: »Dir täte etwas mehr Frohsinn auch ganz gut.«
Plötzlich sprang er auf, die Bahn fuhr soeben an der Station Brandenburger Tor ein. Mit den Worten: »Ich muss gehen«, drängte er sich zwischen den Mitreisenden vorbei und verschwand aus meinem Blickfeld. Als die Bahn weiterfuhr, sah ich ihn auf dem Gleis stehen. Er rieb sich die Stirn, die andere Faust in die Seite gestemmt. Worüber zum Rotzdonnerwetter hatte er sich nun wieder aufgeregt?
°°°
Ich ließ mich mit einem Taxi nach Hause fahren. Wie vereinbart, hatte Madelena den Porsche in die Tiefgarage gestellt, ehe sie in ihr Hotel gegangen war.
Meine Wohnung war gerade geputzt worden. Ich warf das Jackett von mir, zog die Krawatte ab und fiel auf das Sofa. Meine Stirn dröhnte und fühlte sich heiß an. Vielleicht sollte ich etwas schlafen. Aber die Papierstapel, die sich auf meinem Schreibtisch unweit des Sofas türmten, sagten mir deutlich, dass dazu keine Zeit war. In ein paar Stunden würde ich endlich dauerhaft zurück nach Moskau fliegen und erst zu den Nachfolgeverhandlungen