Elementa. Daniela Kappel
Quietschen zum Stillstand. Schuldbewusst blickte sie ihrem Vater ins Gesicht. Seine Züge glätteten sich allmählich wieder und der übliche liebevolle, aber leicht abwesende Ausdruck erfüllte seine Miene. „Daria, schon wieder?“ Es war keine ernst gemeinte Frage. Er wollte sie damit nur daran erinnern, dass sie ihre Kräfte nicht so offensichtlich zur Schau stellen sollte.
Doch immer wieder, wenn sie in Gedanken versunken war, gereizt oder einfach unvorsichtig, passierte es. Sie ließ kleine Windhosen durchs Zimmer jagen oder brachte die Zeitungen und Vorhänge zum Flattern. „Entschuldige, Papa! Ich war nur …“
„Schon gut, Liebling!“, unterbrach er sie mit einem sanften Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte.
„Sieh nur zu, dass es dir nicht noch einmal passiert!“
Er machte drei lang gezogene Schritte durch den Raum und schloss das nun verzogene Fenster. „Ich muss nachher noch zur Bank! Mal sehen, was dort auf mich wartet.“ Grüblerisch fuhr er sich mit der Hand über die kratzigen Bartstoppeln.
„Vielleicht solltest du dich vorher noch rasieren?“, merkte Daria leicht amüsiert an. „Ich erledige einstweilen den Einkauf“, schloss sie und machte sich daran, ihre bequemen Turnschuhe aus einem der kleineren Kartons im Vorraum zu angeln.
Die Fahrt war lang gewesen und sie konnte einen kleinen Marsch gut gebrauchen, um ihre Glieder wieder zu lockern.
„Papa, ist das alles, was wir noch haben?“, rief sie ihrem Vater nach, der gerade ins Bad verschwunden war. Mit einem besorgten Blick musterte sie die wenigen Münzen in dem Portmonee ihres Vaters.
„Das muss erst mal reichen, Liebes“, murmelte er, während er sich Seife im Gesicht verteilte.
Mit einem lautlosen Seufzen schnappte sie sich ihre Tasche und verließ die Wohnung. Die kühle, frische Luft war die reinste Wohltat für ihren schmerzenden Schädel.
Drei Gassen weiter machte sie einen kleinen Supermarkt ausfindig und hoffte inständig auf ein paar Sonderangebote, damit sie mit ihrem überaus mickrigen Budget die nötigsten Dinge erstehen konnte.
Vor dem Eingang des kleinen Ladens, dessen Neonreklame unruhig flackerte, hatte ein Bettler Posten bezogen. Schon von weitem sah sie seine zusammengekauerte Gestalt, in lumpige Kleider gehüllt und den Kopf sowie das halbe Gesicht mit einer fleckigen Kapuze verdeckt. Der Mann tat ihr leid und erinnerte sie daran, dass es Menschen gab, die mit noch weniger als sie auskommen mussten.
Seit sie mit ihrem Vater alleine war, hatte sie wenigstens immer ein Dach über dem Kopf, etwas anzuziehen und zu essen. Ihr Vater war ständig auf der Suche nach zusätzlichen Jobs, um ihren Lebensunterhalt aufzubessern.
Dieser arme Kerl schien jedoch nicht mehr als die dreckigen Kleider an seinem Leib zu besitzen. Daria würde ihm, wenn ihr etwas Geld über bliebe, eine Kleinigkeit zum Essen kaufen.
Beim Vorbeigehen lächelte sie den Bettler freundlich, doch zurückhaltend an. Dieser hob träge den Kopf und sah zu ihr auf. Bei ihrem Anblick zuckte er sichtlich zusammen und starrte sie dann unverhohlen aus weit aufgerissenen Augen an. Seine markanten Gesichtszüge verzogen sich zu einem schiefen Grinsen, bei dem es Daria kalt den Rücken hinunterlief. Doch sie war schon zur Tür hinein und ein mit Konservendosen voll gestapeltes Regal versperrte dem Bettler die Sicht auf sie.
Als Daria spürte, wie ihre Haare von einer sanften Brise verwirbelt wurden, zwang sie sich, wieder zur Ruhe zu kommen, und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Das Lüftchen legte sich unbemerkt und Daria bemühte sich, ihre Konzentration auf den Einkauf zu lenken. Während sie Preise verglich und zum zweiten Mal schweren Herzens die kleine Haarbürste aus dem Einkaufswagen ins Regalfach zurücklegte, kam ihr der Bettler gar nicht mehr so ungewöhnlich vor. Womöglich hatte sie ihn ja an jemanden erinnert und er hatte sich schlichtweg darüber gefreut.
Sie starrte die Bürste noch einige Augenblicke sehnsüchtig an und dachte dabei an das alte, kaputte Modell, das daheim in einer Kiste auf sie wartete und ihr mit den abgewetzten Borsten mehr die Kopfhaut aufritzte, als ihre Haare zu entwirren. Doch dann entschied sie sich endgültig dafür, statt der Bürste ein Stück Brot für den Bettler mitzunehmen und wandte sich ab.
Als sie ihre spärlichen Einkäufe verpackt hatte und mit dem Brotlaib in der Hand beim Ausgang angekommen war, zeugte der menschenleere Gehweg jedoch davon, dass der Bettler weitergezogen war. Mit einem leisen Brummen verstaute sie das Brot in der Einkaufstüte und dachte wehmütig an die Bürste.
„Wir können Ihnen leider keinen weiteren Kredit gewähren, Herr Hellar! Sie sind bereits mit Ihren aktuellen Zahlungen weit im Rückstand!“, sagte der Bankangestellte mit einem leichten Kopfschütteln.
Erik sackte enttäuscht in sich zusammen. Er hatte zwar nicht ernsthaft damit gerechnet, einen weiteren Kredit zu bekommen, doch ein letzter Funke Hoffnung war da gewesen. Zumindest hatte er es versuchen müssen, denn jeder Kredit bei einer Bank war besser, als Geld von Kopack zu nehmen. Er schuldete ihm bereits eine stattliche Summe, welche dieser bis Ende des Monats wieder sehen wollte, mit Zinsen versteht sich.
Doch die Anzahlung für die Wohnung war jetzt erst mal am wichtigsten, ansonsten müssten sie im Auto übernachten und das wollte er Daria nicht antun. Sie musste auch so schon auf so vieles verzichten, da wollte er ihr wenigstens ein Bett zum Schlafen bieten können. Sein schlechtes Gewissen steigerte sich noch, als er die Gedanken zu seiner verstorbenen Frau schweifen ließ. Wäre Iris heute noch bei ihm, so wäre alles anders gekommen. Sie hätte gewusst, wie die Familie besser über die Runden kommen könnte, würde seine Sorgen um Daria mit ihm teilen und er müsste nachts nicht wach liegen und mit schmerzendem Herzen an sie denken.
Jede wache Minute verfluchte er sich dafür, geglaubt zu haben, er könnte ihre Verfolger abschütteln. Der Sprung ins Wasser mit dem Ziel, deren Boot fahruntüchtig zu machen, war der größte Fehler seines Lebens, hatte ihn seine geliebte Frau gekostet und Daria ihre Mutter genommen.
„Brauchen Sie noch etwas?“, fragte der Banker sichtlich genervt und tippte dabei mit dem Zeigefinger auf das blank polierte Glas seiner Rolex.
„Nein, entschuldigen Sie, dass ich Sie so lange aufgehalten habe“, murmelte Erik und verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Bevor er die Bank verließ, um mit leeren Händen heimzukommen, suchte er noch die Toilette des weitläufigen, mit dunkelgrünem Teppichboden ausgelegten Gebäudes auf.
Als er gerade dabei war, sich die Hände mit einem kratzigen Papierhandtuch abzutrocknen, hörte er, wie sich die Tür zur Toilette öffnete. Das Klacken von Absätzen und Knautschen von Leder war zu hören. Erik wusste, wer der Mann war, der gerade den Raum betreten hatte. Seine Lederstiefel im Cowboylook steuerten das Waschbecken neben ihm an. Durch den Spiegel hindurch sah ihm der Mann eindringlich in die Augen. Erik bemühte sich, ruhig zu bleiben, aber die eben abgetrockneten Hände waren wieder nass von seinem Schweiß.
„Hallo, mein Freund!“, begrüßte ihn der Mann, nachdem er ihn eine Weile mit belustigtem Blick betrachtet hatte.
Erik drehte den Kopf zur Seite, um ihm direkt ins Gesicht zu blicken. „Hallo, Spencer!“, erwiderte Erik gedehnt.
„Du weißt, warum ich dich besuche? Kein Glück gehabt mit der Bank, was? Du erinnerst dich aber schon noch daran, dass in acht“, dabei zeigte Spencer die Zahl mit seinen Fingern, „Tagen das Geld fällig ist?“ Ein schmieriges Grinsen straffte seine markanten Züge und verlieh ihm einen gefährlichen Ausdruck.
„Ich weiß, ich werde das Geld parat haben, das habe ich bereits bei deinem letzten Besuch vor einer Woche gesagt“, erwiderte Erik kleinlaut. Es brodelte in ihm, er konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, doch er wollte seinem Gegenüber keinen Grund liefern, verärgert zu werden.
„Gut, gut … schöne Wohnung übrigens“, meinte dieser nur, tippte sich auf seinen schwarzen Cowboyhut und ließ Erik alleine in der Männertoilette zurück.
Woher zum Teufel wusste Kopack schon wieder, wo sie wohnten? Sie hatten etliche Kilometer zurückgelegt und doch war es wie immer nur eine Frage der Zeit, bis Spencer oder ein anderer