Lebt wohl, Familienmonster. Heidi Dahlsen

Lebt wohl, Familienmonster - Heidi Dahlsen


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fortfahren.”

      „Oh, Schreck. Wohin denn? Davon wusste ich nichts. Davon habe ich ja meiner Mutti nichts gesagt.”

      Der nächste Schock in einer Morgenstunde.

      Schnell meldete ich mich mutig und fragte, wohin wir den fahren würden.

      Alle Mitschüler lachten mich aus und verspotteten mich. Mein Gesicht färbte sich dunkelrot.

      „Nie wieder melde ich mich hier!”, nahm ich mir fest vor.

      Gleich zu Beginn der zweiten Klasse bekam ich einen negativen Eintrag, der fein säuberlich von einem Elternteil unterschrieben werden sollte. Meine Mutter tat das auch, natürlich mit einem angemessenen Vortrag und nur gut gemeinten Ermahnungen für meine Zukunft.

      Während meiner Kindheit habe ich sie öfter mit einem strengen Gesichtsausdruck und erhobenem Zeigefinger gesehen, als mit einem Lächeln im Gesicht. Sicher wollte sie immer alles richtig machen und nur das Beste für mich. Dass man mit einem Kind auch Freude haben könnte, kam ihr scheinbar nie in den Sinn.

      Als ich die Unterschrift am nächsten Morgen der Lehrerin zeigte, stutzte diese und wetterte gleich los: „Wie kommst du dazu, eine Mitteilung von mir, selbst zu unterschreiben?”

      Sie schnappte sich mein Kinn, riss meinen Kopf nach oben, damit ich ihr in die Augen gucken musste, (Auge um Auge – Zahn um Zahn) und krallte dabei ihre langen Fingernägel in meinen Hals. Sie ließ sich und mir keine Ruhe mit dem ungeheuren Vorwurf der Unterschriftenfälschung. Wie sollte ich sie aber überzeugen, dass meine Mutter ihren Namenszug höchstpersönlich auf das Papier gesetzt hatte?

      Schuldbewusst ging ich nach Hause und berichtete, was mir vorgeworfen wurde. Meine Mutter musste dann eidesstattlich erklären, dass dieser Krakel wirklich von ihr stammte, um dann noch einmal den gleichen unter die Bestätigung zu setzen.

      Die Lehrerin meinte nur: „Da hast du aber Glück gehabt.”

      „Wieso eigentlich?”, grübelte ich darüber nach.

      Eine angebrachte Entschuldigung für die falsche Verdächtigung habe ich nie zu hören bekommen. Das wäre doch eine gute Möglichkeit gewesen, einem kleinen Kind beizubringen, dass man sich entschuldigt, wenn man einen Fehler gemacht hat. Aber leider ...

      Die ersten vier Schuljahre waren bis auf einige kleinere Zwischenfälle recht schön. Was es zu lernen gab, war leicht zu verstehen. Hausaufgaben machte ich im Handumdrehen. Ich erhielt viele Lobe von den Lehrern, gute Zensuren und dementsprechende Zeugnisse.

      Nur meinen Eltern reichte es nie. Ich könnte ja immer noch besser sein, wenn ich mich mehr anstrengen würde, meinten sie.

      Hätte mir doch jemand mal gesagt, dass Lernen auch Spaß machen sollte und ich nicht ständig alles abrufbereit im Gedächtnis parat haben muss, dann hätte ich die Sache vielleicht etwas leichter gesehen.

      Aber so ging ich fast täglich mit der Angst zur Schule, irgendetwas nicht zu wissen oder vergessen zu haben, schlechte Zensuren zu bekommen und somit Ärger.

      In den Ferien bekam ich von meiner Mutter Übungsaufgaben, und wenn ich die abgearbeitet hatte, lag der nächste Zettel mit Anweisungen, was alles im Haushalt erledigt werden musste, bereit.

      Sie muss sich wohl gedacht haben: „Nur keine Langeweile beim Kind aufkommen lassen, sonst kommt es nur auf dumme Gedanken und macht Schaden.”

      Bis meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, hatte ich Zeit das Pensum abzuarbeiten – Ausreden waren sinnlos, denn lesen konnte ich ja in der Zwischenzeit. Auf den erhobenen Zeigefinger und Vorträge, dass aus mir nichts werden kann, wenn ich faul bin, hatte ich keine Lust. Also ging ich frisch ans Werk und tat alles der Reihe nach, was mir aufgetragen wurde.

      Außerdem wollte ich, dass Mutti zufrieden ist und damit endlich auch mal stolz auf mich sein kann. Meine Anstrengungen wurden jedoch nie mit Lob honoriert … leider.

      Einmal durfte ich in den Ferien eine Woche bei meiner Großcousine Christin in Leipzig verbringen. Sie ist so alt wie ich und hatte das Vergnügen gehabt, vor mir auf dem OP-Tisch zur Ohrenkorrektur zu liegen. Ihr hatte das alles nicht so viel ausgemacht, denn sie war ein aufgewecktes Kind.

      Ihre Mutter hatte ein großes Problem mit ihr – Christin wollte einfach nicht essen. Das konnte ich nicht verstehen. Auf die leckeren Reste, die ständig auf ihrem Teller liegen blieben, war ich neidisch. Um ihre Mutter zu unterstützen, kam ich auf die Idee, ein Wettessen mit Nudeln zu veranstalten. Selbst da bekam sie nicht mehr in sich hinein. Ich habe gewonnen, denn jahrelange Übung im Vollstopfen lag schon hinter mir.

      In dieser Familie wurde mir eine völlig unbekannte Art des Eltern-Kind-Verhältnisses gezeigt.

      Früh, Christins Eltern schliefen noch, schlich sie sich zum Schlafzimmer, riss die Tür auf und sprang laut schreiend ins Ehebett.

      Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich bekam Angst, sie würden denken, dass ich mir das ausgedacht und Christin zu dieser Frechheit angestiftet habe. Zu meiner großen Erleichterung hörte ich aber nur Gelächter und sah in glückliche Gesichter. Alle freuten sich. Christin wurde durchgekitzelt und jauchzte vor Vergnügen. Ich stand in meinem Nachthemd ratlos im Flur, beobachtete das Geschehen und dachte: „Hoffentlich muss ich nicht mit in das Bett.” Das blieb mir aber erspart.

      Zu Hause wäre ich nie auf die Idee gekommen, in das Schlafzimmer meiner Eltern zu gehen oder einfach mit unter deren Decke zu krabbeln. Ich hatte die strikte Anweisung, mich immer leise zu verhalten, bis sie ausgeschlafen haben.

      Christin wurde ständig gestreichelt, gedrückt und oft gelobt. Sie selbst schmiegte sich immerzu an ihre Eltern, kletterte auf deren Schoß und schmuste sogar von sich aus mit ihnen. Das war mir unheimlich.

      Als ich meiner Mutter von dem seltsamen Verhalten unserer Verwandten berichtete, meinte sie nur abwinkend: „Zwischen denen ist eine Affenliebe. Die sind nicht normal!!!”

      „Bloß gut, dass wir wenigstens normal sind”, dachte ich beruhigt.

      Bereits im Alter von neun Jahren hatte ich die Möglichkeit, in den Ferien mit in ein Kinderferienlager zu fahren. Drei Wochen mit anderen Kindern an der Ostsee verbringen zu können – da war ich begeistert.

      Als meine Mutter mit mir auf dem Bahnhof ankam, stand der Zug schon bereit. Schnell stieg ich ein und suchte mir einen Fensterplatz. Gabriele saß mir gegenüber und heulte wie ein Schlosshund. Ich machte mir Sorgen und tröstete sie, dass es sicher schön und gar nicht so schlimm werden würde. Jahre später sollte ich erfahren, dass sich ihr sonderbares Verhalten Abschiedsschmerz und Heimweh nennt.

      Fast alle Kinder winkten ihren Eltern.

      Meine Mutter erzählte meiner Oma: „Elke hat sich weder nach mir umgedreht, noch hat sie gewunken.”

      Sicher war Mutti in diesem Moment sehr stolz auf mich, weil ich schon so unabhängig war.

      In meinem Hintern schienen sich Hummeln zu befinden, denn ich rutschte auf dem Sitz hin und her und konnte die Abfahrt kaum erwarten.

      Am späten Nachmittag kamen wir in dem Ferienlager, das höchstens fünfzig Meter vom Ostseestrand entfernt war, an. Jeder Bungalow hatte zwei Zimmer, die mit jeweils fünf Doppelstockbetten und fünf sehr schmalen Schränken ausgestattet waren. Klein – aber auch mein. Wir brauchten nicht viel Platz, denn bei schönem Wetter waren wir sowieso draußen, und nachts hatten wir die Augen zu.

      Abends war lange keine Ruhe. Das gefiel mir. Endlich Stimmung statt Alleinsein in der Kinderstube.

      Jeden Tag wurde mit uns etwas Tolles unternommen, vom ausgiebigen Baden in der Ostsee über Sandburgen bauen am Strand bis hin zu Theateraufführungen, Nacht- und Strandwanderungen und als Höhepunkt gab es das lustige Neptunfest ... An diesem nahm ich nur beim ersten Mal begeistert und freiwillig teil. In den nächsten Jahren, nachdem mir der Ablauf eines solchen Festes bekannt war, versuchte ich mich zu drücken. Die Toiletten waren als Versteck das beliebteste Ziel und deshalb wegen Überfüllung geschlossen. Leider waren das Trockenklos, in die (aus


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