Lebt wohl, Familienmonster. Heidi Dahlsen
versuchte jeder, die Toilettenbesuche auf das Nötigste zu beschränken und sehr schnell hinter sich zu bringen. Vor dem Eingang pumpte man so viel wie möglich frische Luft in die Lunge, machte schon mal die Hose auf, beeilte sich bei der Verrichtung, atmete dabei ganz langsam und stoßweise aus, verließ das Häuschen im Galopp, um draußen wieder tief einzuatmen. Wer da an Verstopfung litt, hatte schlechte Karten.
Schöner war es im Waschraum. Alle Kinder standen in einer Reihe an einer Waschrinne, die eher einem langen Futtertrog glich. Wasser kam nur kalt aus der Leitung, angeblich zu unserer Abhärtung, aber das störte niemanden, denn wir waren noch jung. Auch hatte der Waschraum mehr Ähnlichkeit mit einer kleinen Scheune. Unter dem Dach nisteten Schwalben. Wir hatten die Gelegenheit, Schwalbenpaare beim Bau ihrer Nester, bei der Brutpflege und die Jungvögel bei ihren ersten Flugversuchen zu beobachten. Das war sehr lehrreich und wirklich schön.
Viel Spaß bereitete es uns, die Jungs zu ärgern. Da ging manchmal die Fantasie mit uns durch. Einmal legten wir einen Harzer-Roller (nicht den Kanarienvogel – sondern den Stinkerkäse) in die Deckenlampe im Jungenzimmer und wetteten, wie viele Abende es wohl dauern würde, bis die Jungs endlich etwas zu schnüffeln bekamen. Es stank nicht nur entsetzlich, der an der heißen Glühbirne zerlaufene Käse tropfte dann auch noch auf den Fußboden.
Ein anderes Mal schickten wir ein Mädchen in das Zimmer ihres Bruders. Das fiel nicht so auf, denn sie hätte ja wirklich einen wichtigen Grund haben können, sich dort aufzuhalten. Sie hatte aber nur unseren Auftrag, in einem unbeobachteten Moment so viele Schlafanzüge wie möglich einzusammeln.
Kaum war sie mit ihrer Beute zurück, machten wir uns ans Werk. Alle Ärmel und Hosenbeine wurden ganz dicht und fein säuberlich zugenäht. Wir hatten zu tun wie fleißige Bienchen. Die Handarbeitslehrerin wäre sehr stolz auf uns gewesen.
Am späten Nachmittag brachte besagte Schwester alles wieder zurück.
Gab das am Abend ein Gejohle. Die armen Jungs lernten so das erste Mal in ihrem Leben, sich richtig zum Trottel zu machen, weil sie die Nähte wieder auftrotteln mussten.
Wenn manche Kinder die Heimfahrt nicht erwarten konnten, ich hätte noch viel länger bleiben können. Aber leider ging das nicht. Andere wollten sich auch erholen.
Zu Hause warteten die Ferien-Übungszettel, die Hausarbeit und das Alleinsein auf mich.
Gottes Segen auch auf meinen Wegen
Manche meiner Freundinnen waren damit gesegnet, getauft zu sein. War ich schon nicht mit Geschwistern gesegnet, so hatte ich an den Donnerstagen nicht einmal mehr Freundinnen.
Alle, die getauft waren, durften an der Christenlehre teilnehmen. Sie gingen zusammen in die Kirche im Nachbarort und kamen sehr zufrieden erst am späten Nachmittag zurück.
„Bestimmt haben die viel Spaß”, dachte ich ziemlich neidisch. Da man ja mit besten Freundinnen alles besprechen kann, fragte ich sie, ob ich sie wenigstens einmal zu solch einer Stunde begleiten dürfte. Sie sagten, dass das sicher möglich wäre.
Aufgeregt lief ich zu meiner Mutter und bat sie freudestrahlend um Erlaubnis.
Sie meckerte jedoch gleich los: „Was denkst du dir denn dabei? Wie kommst du auf diesen Schwachsinn? Und überhaupt, wir gehen nicht in die Kirche. Das kommt auch für dich nicht infrage ...”
Sie hielt mir eine Predigt, noch bevor ich überhaupt einen Fuß in Richtung Kirche setzen und erfahren konnte, was eine Predigt eigentlich ist.
Meine Oma war gerade zu Besuch und sagte: „Lass das Kind doch in die Kirche gehen. Das hat doch noch niemandem geschadet.”
Meine Mutter antwortete ihr ungehalten: „Das geht dich nichts an! Du hast dich nicht einzumischen!” Worauf Oma zu schluchzen anfing.
„Wenn Oma meint, dass das nicht schadet, wird es sicher kein Verbrechen sein, mal mit in die Kirche zu gehen”, überlegte ich mit meinem kindlichen Gemüt.
Außerdem drohte meine Mutter mir doch bei jeder Gelegenheit mit erhobenem Zeigefinger: „Versündige dich nicht!”
Wo sollte ich denn etwas über Sünde und vor allem wie ich diese vermeiden kann, lernen, wenn nicht in einer Kirche?
Der kommende Donnerstag war mein. Voller Erwartung zog ich mit meinen Freundinnen los.
Die Kirche war wunderschön, die Räume sehr hoch und angenehm kühl, herrliche Malerei überall und eine beeindruckende Orgel. Ich kam aus dem Staunen nicht raus und flüsterte ehrfurchtsvoll.
Wir setzten uns an einen riesigen Tisch. Der Pfarrer kam und begann mit dem Unterricht. Er erzählte uns Geschichten und so allerhand Zeug, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Zum Schluss bekamen wir bunte Bilder geschenkt. Viel zu schnell war die Christenlehre zu Ende.
Der Herr Pfarrer sprach mich an und fragte: „Wie hat es dir denn gefallen?”
„Hier ist es ganz toll”, strahlte ich ihn an.
„Wie heißt du eigentlich, und bist du getauft?”, löcherte er mich weiter.
Die warnenden Worte meiner Mutter fielen mir ein, und der erhobene Zeigefinger drängte sich in mein Gedächtnis. Kleine Alarmglöckchen setzten sich in Bewegung. Ich wurde vorsichtig und sagte nur: „Ich heiße Elke Schneider, und ob ich getauft bin, das weiß ich nicht so genau.”
Meine vorwitzige Freundin Heidrun, die Getaufte, rief von hinten: „Aber ich weiß es ganz genau. Die ist nicht getauft.”
„Alte Petze”, funkelte ich sie ärgerlich an.
„Na, dann muss ich wohl mal mit deinen Eltern sprechen”, meinte der Pfarrer.
„Bloß das nicht”, dachte ich und Panik stieg in mir auf.
Und schon wurde es Zeit für meine erste Beichte: „Herr Pfarrer, bitte sprechen Sie nicht mit meinen Eltern. Die wollen nicht, dass ich an der Christenlehre teilnehme.”
„Oh, das ist aber schade. Wenn sie es sich anders überlegen, kannst du aber jederzeit wiederkommen”, sagte er freundlich.
Wenn meine Mutter erfahren hätte, dass ich trotz ihres Verbotes in der Kirche war, hätte es zu Hause die nächste Predigt gegeben. Außerdem war mir bewusst, dass eine Taufe für mich überhaupt nicht in Frage kommen kann. Wie würde ich Pummelchen denn in einem Taufkleid aussehen? Und wer sollte mich hochwuchten und über das Becken halten? Das konnte ich doch niemandem zumuten.
„Ich glaube, Kirche und so, das ist doch nichts für mich”, schloss ich dieses Kapitel ein für allemal ab.
Es blieb mir dann nichts weiter übrig, als für die Donnerstage andere, ungetaufte Freundinnen zu suchen oder allein zu spielen.
Kurze Zeit darauf wurde in der Schule angekündigt, dass interessierte Schüler Akkordeon spielen lernen können. Das war etwas für mich. Und so begann meine Akkordeon-Karriere.
Immer montags hatte ich Einzelunterricht, und mittwochs übte die ganze Gruppe. Nach einem Jahr waren wir dann so weit, dass wir bei Konzerten auftreten konnten.
Das war ein schönes Hobby.
Mit Martina spielte ich im Duett. Da wir uns gut verstanden, unterstützten wir uns auch. Wenn ich an einer Stelle nicht sicher war, spielte sie einfach lauter, damit ich ein paar Töne auslassen konnte, und ich revanchierte mich bei ihren Engpässen.
Heute würden Musikexperten sagen: „Sie interpretierten die Stücke auf ihre Weise.”
Noch mehr Spaß machte es natürlich, in der Gruppe zu üben, denn da war immer Stimmung. Zwei aufgeweckte Jungs unterhielten uns auf ihre Art und erzählten ununterbrochen die neuesten Witze. Die Lehrerin konnte aber nicht auf sie verzichten, denn die beiden spielten, wenn sie mal spielten, wirklich gut.
Der eine saß am Anfang und der andere am Ende der Reihe. Die Lehrerin dachte sich wohl, je weiter die voneinander getrennt sind, umso besser ist das für