Lebt wohl, Familienmonster. Heidi Dahlsen

Lebt wohl, Familienmonster - Heidi Dahlsen


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hatte einmal Mohrenköpfe mit. Das sind Kuchenstücke mit Sahnefüllung und Schokoladenüberzug – einfach köstlich.

      Mario rief: „Schmeiß mal einen her”, und schon flog der Kuchen ... an ihm vorbei, klatschte an das Bild eines verdienstvollen Politikers mit Spitzbart, auch noch mitten in dessen Gesicht, rutschte ganz langsam nach unten und hinterließ eine breite Sahnespur.

      Das war zum Totlachen – aber nur für uns.

      Der Werfer hatte Glück, dass er der Sohn vom Direktor war. Kleinere Vergehen wurden bei ihm gern unter den Teppich gekehrt. Wir hörten auch nie etwas über eine vollzogene Strafe.

      Akkordeon spielen machte mir Spaß – ich spielte wirklich gern. Mein Vater war darüber so stolz, dass ich zu Familienfesten immer vorspielen musste.

      Die liebe Verwandtschaft dachte: „Hoffentlich holt der nicht wieder die Quietschkommode raus, und wir müssen unseren Ohren Elke ihr Gedudel antun ...”

      Aber leider blieb ihnen mein Auftritt nur selten erspart. Sie waren eben Kunstbanausen und hatten kein musikalisches Gehör.

      Hinterher rangen sie sich höchstens ein gequältes „na fein” ab und waren genauso erleichtert wie ich, wenn mein unfreiwilliges Konzert endlich vorüber war.

      Familienfeiern waren bei uns langweilig und nicht sehr unterhaltsam. In anderen Familien ist zu solchen Anlässen richtig viel los, um nicht zu sagen, da geht total die Post ab. Entweder alle tanzen bis in die Nacht oder es wird getrunken, bis einer unterm Tisch liegt, oder man schreit sich an. Da ist Stimmung.

      Unsere Verwandtschaft kam mit langen Gesichtern. Alle hatten die Schnauze voll, dass sie zu uns kommen mussten. Und meine Eltern hatten schon vorher die Schnauze voll, dass die überhaupt kamen. Na ja, man ist eben miteinander verwandt und es bleibt einem nichts anderes übrig, als öfter als einem lieb ist, an diesen Festen teilzunehmen. Die reinsten Pflichtveranstaltungen für alle Beteiligten.

      Leider kann man sich nur Freunde selbst aussuchen.

      Für einen Onkel war es immer ein besonderer Spaß, mein neues Spielzeug zu verstecken. Da hat er sich so manches Mal im Finden von Verstecken übertroffen und sich dann an meiner kindlichen Ratlosigkeit ergötzt. Den Sinn dieses Spiels konnte ich damals nicht verstehen. Sicher war ihm nur langweilig.

      Die Gespräche zogen sich zäh hin und alle waren froh, wenn das Abendessen endlich vorbei war und sie wieder nach Hause durften. Unsere Familienfeiern waren eher ein schnelles Abfüttern der Gäste und danach konnten meine Eltern einen Haken machen, mit dem Vermerk „geschafft”.

      Nach einer Feier hatten wir einmal ein besonderes kulinarisches Missvergnügen. Meine Mutter hatte für Sonntag Kohlrouladen vorbereitet, die bereits am Samstagabend in der Küche standen. Pünktlich stellte sie den Topf auf den Herd und erhitzte das Essen. In der Soße schwimmend sahen die Kohlrouladen noch ganz gut aus, auf dem Teller liegend jedoch etwas faltig. Mein Vater schnitt seine an und ließ sie sich in Gedanken schon auf der Zunge zergehen. Aber, welch ein Schreck? Die Füllungen waren alle weg.

      Der Vater meiner Cousine blieb immer im Verdacht, das Kraut geplündert zu haben. Wahrscheinlich war er am kalten Büffet einfach nicht satt geworden.

      Gesehen hatte es keiner, und beweisen konnte es niemand. Am meisten ärgerte es meine Eltern, dass sie zu denen nie eingeladen wurden, und sich somit auch nie rächen konnten.

      Wenn wir ab und zu mal bei der Verwandtschaft waren, saßen wir meistens mit den Gastgebern gelangweilt rum. Erst als wir endlich gingen, kam der ganze Rest der Familie, um lustig miteinander zu feiern.

      Wie ich später erfuhr, konnte niemand meinen Vater ausstehen, deshalb kamen die meisten erst gar nicht.

      So lernte ich nur trostlose Familienfeiern kennen.

      Aber manchmal, da machte sich jemand über einen anderen lustig, aber das war auch nicht besonders unterhaltsam.

      Leiblich oder adoptiert

      Die unschönen Erlebnisse mit meinen Eltern brachten mich auf die Idee, in unserem Familienstammbuch nach Hinweisen zu suchen, ob ich eventuell adoptiert worden bin. Denn Eltern, die ihr Kind gern haben, verhalten sich nicht so abweisend wie meine.

      Lange Zeit dachte ich, mein Name wäre „DUMME” oder „NACHTJACKE mit dem Fichtelhirn”, weil ich, in Verbindung mit einem leichten Schlag auf den Hinterkopf, der das Denkvermögen erhöhen sollte, oft von meinem Vater so genannt wurde. Außerdem nahm ich an, dass ich im Sternzeichen „JAMMERLAPPEN” geboren wurde.

      Am liebsten hätte ich mich selbst in ein Kinderheim eingewiesen. Aber man hätte mir sicher nicht geglaubt. Ein Einzelkind und nicht zufrieden. Wie undankbar ist das denn?

      Den Vater meines Vaters, also meinen Opa, habe ich zwar gekannt, ich könnte aber nicht gerade behaupten, dass er oft ein Wort an mich gerichtet hat.

      Ein Ereignis ist mir jedoch in Erinnerung geblieben.

      Ihm gefiel es wahrscheinlich gar nicht, dass ich so ängstlich war. Deshalb wollte er mir sicher nur helfen, als er mir auf seine einfältige Art Mut einflößte, denn: Konfrontation mit der Angst muss ein sicheres Mittel sein, diese zu bekämpfen!!!

      Meine Großeltern wohnten in unserem Nachbarort, der nur eine Bahnstation entfernt war.

      Ich traute mich im Alter von acht Jahren natürlich noch nicht allein Zug zu fahren, denn die schweren Türen, mit den meist klemmenden Schlössern, bekamen selbst die Erwachsenen kaum auf.

      Während einer Familienfeier schnappte Opa mich einfach, schleppte mich ohne Kommentar zum Bahnhof, kaufte eine Fahrkarte und steckte mich in den nächsten Zug Richtung Heimat.

      „Hilfe, Eltern! Wo seid ihr? Ihr sollt doch immer auf mich aufpassen und mich beschützen”, schrie es in mir.

      Tausend Ängste stand ich aus.

      Während der Fahrt probierte ich vor lauter Panik, ob die Tür aufgeht, damit ich es am Bahnhof schaffe, auszusteigen und nicht bis zur nächsten Stadt mitfahren muss. Denn dort hätte ich nicht gewusst, welcher Zug zurück nach Hause fährt. Außerdem hatte ich keinen Pfennig mitbekommen und hätte keine Fahrkarte für die Rückfahrt kaufen können. Schwarzfahren kam für mich nicht infrage, denn das ist ja verboten.

      Viele Jahre hatte ich Albträume von Zugfahrten, die ich auf dieses Erlebnis zurückführe.

      Es wäre doch eine kinderfreundlichere und erziehungswirksamere Methode gewesen, einfach mitzufahren und mich allein alles ausprobieren zu lassen, mit den aufmunternden Worten: „Siehst du, so einfach ist das. Und wenn die Tür wirklich mal nicht aufgeht, fragst du einfach einen Erwachsenen.”

      Meine Eltern hielten es nie für nötig, mit mir über diesen Vorfall zu sprechen. Vielleicht hatten sie mich gar nicht vermisst und sich abends nur gewundert, weil ich schon zu Hause war.

      Ich darf gar nicht daran denken, was hätte alles passieren können. Aber die Zack-Zack-Methode ging ja auch auf. Ich Angsthase bin sogar angekommen. Und die Albträume, die sich bei einem Kind daraufhin einstellen könnten, hat man ja nicht selbst. Hauptsache das Kind wird endlich mutiger und selbstbewusster.

      Als ich zwölf Jahre alt war, ist mein Opa dann gestorben. Mein Vater sagte zu mir: „Mach das Radio aus, der Opa ist tot.” Den Zusammenhang habe ich nie verstanden. Es gab keine weitere Anteilnahme, nie Gespräche oder Erinnerungen irgendwelcher Art an diesen Mann.

      Tot – weg – das war´s.

      Vielleicht hatte mein Vater auch keine guten Erlebnisse mit ihm gehabt, aber auch darüber wurde nie gesprochen.

      Meine Oma war nach dem Tod ihres Mannes sehr verzweifelt. Sie hatte nur noch einen Wunsch – sie wollte so schnell wie möglich zu ihm auf den Friedhof.

      Aber so einfach ist das ja nicht.

      Oma war total hilflos und statt ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben, ließ sie sich einfach fallen und wollte nicht mehr leben.


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