Tarris. Peter Padberg
vielen Jahren nicht mehr vorgekommen, dass der Meister des hohen Rates oder der Sekretär eine Entscheidung gegen die Mehrheit durchgesetzt hatten. Gandaros und Zola begrüßten alle Mitglieder des Rates sehr herzlich. Sie alle kannten sich mindestens schon seit Jahrzehnten, einige bereits seit Jahrhunderten.
„Seid willkommen, Schwestern und Brüder des hohen Rates“, eröffnete Kilalurak das Treffen. „Das älteste Mitglied unseres Rates, Ser Gandaros, bat darum, dass wir uns schnell zusammenfinden, da er Euch über wichtige Dinge unterrichten möchte. Gandaros, Zola und ich haben uns bereits über diese Dinge unterhalten, die er Euch jetzt erläutern wird, und Zola und ich sind ebenso der Ansicht, dass es auf Tarris Veränderungen gibt, über die wir sprechen müssen und zu denen wir uns auch – heute – überlegen müssen, wie wir weiter vorgehen möchten. Gandaros, bitte beginnt.“
„Liebe Freunde, zuerst möchte ich Euch etwas sehr Erfreuliches berichten. Wir Ihr wisst, befinde ich mich seit einiger Zeit auf der Suche nach magisch begabten Homuae, deren Begabung so stark ausgeprägt ist, dass wir Ihnen die Gelegenheit geben sollten, hier im Tarutos von uns ausgebildet zu werden. Wenn Sie sich beweisen, sollen sie Mitglieder im Rat werden. Karameen und ich habe bisher drei Kandidaten gefunden, denen wir es wirklich zutrauen, diesen Weg zu gehen.“ Unter den Ratsmitgliedern kam ein erstauntes, aber auch erfreutes Gemurmel auf, da alle vor dem Beginn der Suche dachten, dass sie niemanden finden würden. „Es sind ein Mädchen und zwei Jungen. Gleich zwei von ihnen stammen aus Hornstadt, einer kommt ganz aus der Nähe, nämlich aus Napoda.
Das Mädchen heißt Maurah, und Karameen hat sie als erste von den dreien entdeckt. Die Magie in ihr ist sehr stark und wie Karameen mir berichtete, sind ihre Fähigkeiten bei der Beeinflussung anderer Lebewesen auch ohne Training außergewöhnlich gut entwickelt. Karameen denkt, dass sie in Zukunft über weitaus größere Fähigkeiten verfügen wird als die, die sie selbst hat. Karameen hat bereits die erste Stufe der Ausbildung von Maurah begonnen. Sie möchte bei ihr sein, wenn die Magie sich gegen sie auflehnen wird und sie beim Bezwingen der Magie unterstützen – damit auf keinen Fall die Magie die Überhand gewinnt. Und sie wird ihr den Jagdbogen Iactis geben!“ Wieder kam überraschtes Gemurmel aus der Runde. Wenn Karameen, die jeder hier nicht nur schätzte, sondern fast schon bewunderte, einem Kind den Jagdbogen geben wollte, musste sie von ihm mehr als überzeugt sein. Dies war ein überaus positives Zeichen. „Karameen und Maurah sind schon gemeinsam in einen Kampf verwickelt worden und Maurah hat sich gut geschlagen. Karameen ist – und Ihr wisst, dies kommt nicht oft vor – sehr verwundert darüber, wie schnell und wie gut das Mädchen lernt. Ich hoffe, dass Maurah im kommenden Jahr zusammen mit dem Jungen aus Hornstadt hier eintreffen wird.
Dieser heißt Fanir und bei ihm ist es weniger verwunderlich, dass er über eine starke magische Befähigung verfügt. Er ist ein Nachkomme von Lord Farnos! Ihr wisst, wie eng ich mit Farnos bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden war. Dieser Junge erinnert mich sehr an ihn und seine magische Kraft scheint ähnlich der von Farnos zu sein, wobei er auch die besondere Begabung für die Verbindung des Schwertkampfes mit der Magie besitzt. Da er im gleichen Dorf wie Maurah lebt, habe ich Karameen gebeten, ihn in die Übungen einzubeziehen, die sie mit Maurah durchführt, damit auch er eine erste Ausbildung erfährt.“ Gandaros machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. „Und ich habe eine noch bessere Nachricht für Euch: Er ist im Besitz von Sternenstaub!“ Die Ratsmitglieder sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten ausgelassen wie kleine Kinder. Dass Sternenstaub, eines der großen Artefakte, wieder aufgetaucht war, war eine überaus gute Nachricht, da sie dem Rat Macht gab, wenn Tarris auf seine Hilfe angewiesen wäre. „Das Schwert wurde in seiner Familie immer vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben und so ist es dann zu Fanir gekommen, der es in einer Kiste aufbewahrt hat.
Der dritte, den wir im Auge haben, ist Prinz Gannio aus Napoda. Es ist eine Weile her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen habe, aber seine magische Kraft war vor zwei Jahren bereits deutlich zu spüren. Ich werde bald vom Tarutos nach Napoda reisen und ihn dann eingehender prüfen und ihm erläutern, was es mit der Magie auf sich hat. Dies ist aber nicht der einzige Grund, warum ich nach Napoda gehe. Um Euch dies zu erklären, haben wir uns heute hier versammelt. Und nun kommen wie zu den schlechteren Nachrichten.
Karameen, Magras und auch ich selbst haben viele Hinweise darauf erhalten, dass Dakaron in den Nordlanden ganze Landstriche unterjocht hat und sein Streben nach Macht und Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches zu einem Problem für ganz Tarris werden könnte. Auch gibt es Anzeichen, die darauf hinweisen, dass es ihm gelungen ist, Wrokorks nach Tarris zu holen und dass er nach den großen Artefakten sucht. Ihr alle wisst, was dies bedeutet. Zola hat mir berichtet, dass die Piraten der Südküsten Kaperbriefe aus dem Nordosten erhalten hätten und ihnen Unterstützung zugesagt wurde. Dies würde bedeuten, dass Dakarons Einfluss schon wesentlich weiter reicht, als ich es in meinen schlimmsten Befürchtungen auch nur angenommen habe. Aus diesem Grund versuchen Karameen und ich, Verbündete für eine mögliche Konfrontation zu finden – und dies ist der zweite Grund, warum ich nach Napoda muss. Es könnte schneller als es nur einer hier in diesem Raum gedacht hätte nötig sein, auf die Flotte und Kampfkraft von Napoda Zugriff zu erhalten. Ich werde mit König Geminiano sprechen und versuchen, ihn für unsere Sache zu gewinnen. Dies wird aufgrund seiner Kopfverletzung eine echte Herausforderung werden – und daher habe ich dieses Treffen auch einberufen, um Eure Zustimmung für ein Unterfangen einzuholen, dass unserem Kodex wiederspricht.“ Die Regeln des Rates der Erfahrenen waren heilig und zum ersten Mal, seit sie sich heute zusammengesetzt hatten, erschien ein missbilligender Gesichtsausdruck bei dem einen oder anderen Ratsmitglied. Gandaros hatte nichts anderes erwartet; er selbst dachte schließlich ähnlich. „Ich bin selbst nicht sicher, ob ich Euch um Eure Zustimmung zu dieser Sache bitten darf und habe lange überlegt, ob ich dies tun soll. Jedoch bin ich der Überzeugung, dass wir NICHTS unterlassen dürfen, was Tarris und seiner Bevölkerung helfen könnte! Daher möchte ich Euch bitten, mir zu gestatten, Geminiano mit Hilfe der Magie gefügig zu machen und uns seine Unterstützung zu sichern.“
Hatten die Mitglieder bei der Verkündung, dass Sternenstaub gefunden sei, gejubelt, so waren nun entsetzte Äußerungen zu hören. Wie konnte ihr Meister Gandaros sie um die Zustimmung zu solch´ einer verwerflichen Tat bitten. Niemals, außer im Kampf, sollte die Magie gegen einen Homuae eingesetzt werden – dies war eine der höchsten Regeln. Es gab heftige Diskussionen, die sich über Stunden hinzogen, wobei insbesondere Zola, die das Leid der Menschen in Napoda gesehen hatte, Gandaros heftig unterstützte. Zu einem Ergebnis, ob Gandaros seine Magie zur Beeinflussung des Königs einsetzten dürfe, kamen sie nicht. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als sie beschlossen, beim Frühstück eine Entscheidung zu treffen.
„Ich befürchte, sie haben den Ernst der Lage nicht erkannt“, sagt Zola zu Gandaros und Kilalurak. Diese drei waren die letzten, die sich noch im Raum befanden. „Ihr denkt wie ich, alte Freunde, dass der Rat an dem einen oder anderen Punkt zu sehr an seinen Regeln festhält und sich von den Bedürfnissen der Homuae und von der Realität entfernt hat. Ich befürchte nur, dass das „Jetzt“ sie schneller als sie denken einholen wird. Es gibt meiner Meinung nach keine Alternative. Wir müssen alles tun, um uns auf mögliche militärische Aktionen des Nordostens vorzubereiten und wir müssen Tarris-weit Verbündete finden. Um jeden Preis! Sollten wir morgen nicht schnell eine Einigung finden, werde ich auf meinem Recht als Meister bestehen! Dies würde mit Sicherheit Zerwürfnisse im Rat bedeuten, aber ich glaube nicht, dass wir eine andere Möglichkeit haben. Lasst uns schlafen gehen und abwarten, was unsere Freunde sich bis morgen früh überlegen“, beendete Gandaros das Treffen.
Sol war gerade über der Wüste Tart aufgegangen, als sich bereits alle Ratsmitglieder im Versammlungsraum eingefunden hatten. Den Ratsmitgliedern war anzusehen, dass sie lange über den gestrigen Abend nachgedacht hatten; keiner von ihnen wirkte ausgeschlafen. Alle unterhielten sich untereinander in kleinen Gruppen, als Gandaros das Wort ergriff. „Es ist gut, dass Ihr nun Eure Gedanken untereinander austauscht – wir sollten eine gemeinsame Entscheidung treffen. Bitte unterhaltet Euch in Euren Gesprächen auch darüber, wie sich der Rat generell gegenüber dem Nordosten und seinem Herrscher verhalten soll. Ich möchte von Euch wissen, wie wir strategisch weiter vorgehen sollen. Es muss unser Ziel sein, eine verbindliche, gemeinsame Vorgehensweise festzulegen.“