Dorran. Isabel Tahiri
verließen sie langsam die Berge, man merkte es sofort. Der Weg war breiter, flacher und mit wesentlich weniger Geröll übersät. Es wurde plötzlich wieder wärmer, tagsüber brauchte man keine Jacke mehr, dabei hatte man bereits Herbst. Offensichtlich, war es im Süden viel wärmer als in Bergland. Dorran und Simone überlegten, ob sie nicht sogar im Wagen überwintern könnten. Sie müssten sich noch eine Plane, oder auch zwei, kaufen, wie damals in Waal und genügend Vorräte. Unterwegs begegneten sie jetzt auch anderen Reisenden, aber die meisten waren kurz angebunden, Guten Tag und Guten Weg, ein richtiges Gespräch entwickelte sich nicht. Die beiden Reisenden fanden das sehr schade, hätten sie doch gerne ein paar Neuigkeiten erfahren.
Irgendwann trafen sie Alfonso und seine Familie, sie zeichneten sich durch bunt bemalte Wagen und ein freundlich, fröhliches Wesen aus. Man rastete an der gleichen Stelle am Fluss und kam vorsichtig abtastend ins Gespräch. Dorran war der Mann sofort sympathisch, was scheinbar auf Gegenseitigkeit beruhte. Auch Alfonso wollte in den Süden ans Meer, er überwinterte alle zwei Jahre dort. Dorran und Alfonso verstanden sich gut, Simone kam bestens mit Aurora, seiner Frau, zurecht. Als die Fahrt dann weitergehen sollte, wurde man sich rasch einig, fortan wollte man gemeinsam reisen. Das hatte für Dorran und Simone natürlich Vorteile. Alfonso kannte sich aus, und wusste genau, wo es was zu kaufen gab. Aber auch Nachteile, oft wurden sie schon am Ortsrand wieder verjagt, fahrendes Volk war nicht überall willkommen. Dieses Problem löste Dorran, indem er vorschlug, für alle einzukaufen. Wenigstens in den Dörfern, in denen Alfonso und seine Familie nicht willkommen waren. Die Idee wurde freudig begrüßt. Als Dorran ihre Wünsche auch noch aufschrieb, er hatte beim Aufräumen ein Buch mit leeren Seiten gefunden, waren sie begeistert.
Alfonso gab ihm gleich fünf Wertsteine mit, als er mit Simone voraus fuhr nach Beata, um die Idee zu testen. Problemlos kaufte er alles von seiner Liste und auch noch eine Menge anderer Dinge für sich selbst, unter anderem zwei Kannen gutes Öl. Für alles zusammen benötigte er nur zwei Wertsteine. So preisgünstig wie in Litz war es in Beata auch, eigentlich im ganzen Süden. Für zwei Wertsteine hätte man in Bergland kaum etwas bekommen. Jetzt aber war ihr Wagen bis unters Dach mit den herrlichsten Dingen vollgestopft.
Es war abgemacht, sich eine Flussbiegung weiter, wieder mit Alfonso zu treffen. Dorran wunderte sich über das Vertrauen, dass Alfonso zu ihnen hatte, manch einer wäre mit den fünf Wertsteinen vielleicht durchgebrannt. Er war froh, so gut eingekauft zu haben, er wollte Alfonso nicht gerne enttäuschen. In der kurzen Zeit, hatte Dorran bereits das Gefühl, einen guten Freund gewonnen zu haben. Offensichtlich sah Alfonso das genau so. Beim Ausladen unter freudigem Geschrei, zeigte sich erst, wie viel Dorran und Simone wirklich gekauft hatten. Die ganze Wiese lag voller guter Sachen. Alfonso kramte seine Geldbörse heraus und fragte Dorran, was er denn nun noch bezahlen müsse.
Dorran winkte ab. „Äh, Alfonso, Du bekommst noch drei Wertsteine zurück, Du musst mir nichts mehr geben.“
Der sah ihn erstaunt an. „Was? Das hast Du alles für zwei Wertsteine gekauft? Diese Verbrecher, ich hätte für die fünf Steine nicht einmal die Hälfte bekommen. Ein Segen, das wir euch getroffen haben. Ab jetzt bist Du mein Bruder, kommt herüber ans Feuer, wenn ihr eure Sachen verstaut habt. Dann esst ihr mit uns.“ Er küsste ihn noch rechts und links auf die Wange und lief laut rufend zu seinen Leuten zurück. Beim Abendessen gab es ein ein großes Abküssen und Schulterklopfen, Alfonsos Familie konnte kaum fassen, was sie heute alles bekommen hatten. Man brachte Dorran und Simone die besten Stücke Fleisch, Schüsseln mit Gemüse und Fladenbrot. Es wurde ein schöner Abend, man sang und trank Wein, die Frauen tanzten. Satt und zufrieden fielen alle, spät in der Nacht, auf ihr Lager.
Die Nächte wurden jetzt spürbar kühler, obwohl die Oktobertage immer noch sehr warm waren. Auch einige Tage später, in einem anderen Dorf, machten sie den Einkauf auf dieselbe Weise und auch diesmal erzielte Dorran einen guten Preis. Bei den Lebensmitteln jedenfalls, für zwei warme Jacken mussten sie dagegen drei Wertsteine hinblättern, das war deutlich teurer als in Bergland. Aber Simone und Dorran froren immer gegen Abend und brauchten sie dringend. Trotzdem war es viel Geld.
Das Dorf hieß Klippe und lag an dem berühmten und einzigen Wasserfall auf der Insel Adlerhorst. Sie konnten sich gar nicht daran sattsehen. Das Wasser schoss mit großer Kraft über die Klippen des Donnerflusses, der nach dem Wasserfall deutlich abfiel. Von dem Felsen, auf dem sie standen konnten sie sehen, dass sie einiges an Gefälle überwinden mussten. Dorran fürchtete um Pferd und Wagen, aber Alfonso beruhigte ihn dahin gehend, im schlimmsten Fall, gehe man vor dem Pferd. Dadurch könnte man es bremsen und ihm den Abstieg einigermaßen erleichtern. Aber bis jetzt hatte Alfonso an diesem Streckenabschnitt noch nie Probleme gehabt.
Die nächsten drei Tage ihres Weges hatten sie erwartungsgemäß nur Gefälle, das war anstrengend für Menschen und Pferde. Man rastete deshalb immer bereits am Nachmittag.
Dafür stieg die Temperatur wieder an, auch nachts war es deutlich wärmer, was von allen als angenehm empfunden wurde. Dorran fiel wieder ein, was er damals von Mechthild gelernt hatte, sie waren die ganze Zeit über die Hochebene gereist. Und er hatte gedacht, bereits der erste Abstieg nach der Grenze sei das Hochplateau gewesen. Sie kamen sie sehr gut voran. Lebensmittel kauften sie in Bauernhöfen, an denen sie vorbeifuhren. Hier war unwichtig, wer einkaufen ging, die Bauern machten keinen Unterschied zwischen Alfonso und Dorran, sie hatten einzig Interesse an den Wertsteinen, wer sie ihnen gab, war egal.
Mitte November sahen sie dann das erste Mal das Meer, sie waren noch weit entfernt, aber der Horizont sah anders aus. Alfonso erklärte ihnen, dass es jetzt noch ungefähr zehn Tage dauern würde bis zu ihrer Ankunft. Die Stadt Flusstor ließen sie links liegen, da hatte das fahrende Volk schlechte Erfahrungen gemacht, einkaufen konnten sie weiterhin bei den Bauern. Aber hier verließen sie den Fluss, dem sie so lange gefolgt waren und fuhren in südöstlicher Richtung direkt nach Meerstadt. In der Nähe der Stadt gab es ein großes Winterlager des fahrenden Volkes und Alfonso lud Simone und Dorran dorthin ein, um mit ihnen den Winter zu verbringen. Er versprach, als sie zögerten, dass zumindest Simone Geld verdienen würde, sie konnte die ganze Zeit unterrichten. Das gab den Ausschlag, freudig stimmten sie zu. Den Winter allein und ohne festen Wohnsitz zu verbringen, war eben doch nicht sehr verlockend.
Im Winterlager
Sie bekamen einen Platz neben Alfonsos Familie zugewiesen, der relativ groß war. Eine Menge Leute kamen herüber. Alfonso hatte in Windeseile verbreitet, dass er eine Lehrerin mitgebracht hatte. Natürlich waren die Leute neugierig, wer den Winter über ihre Kinder unterrichten würde. Nun wurde ihnen von allen Seiten Hilfe zuteil. Ein Mann sagte. „Ihr braucht ein richtiges Zelt, gebt uns Eure Plane, wir werden es bauen, schaut einfach zu.“ Simone und Dorran kamen anfänglich schlecht mit der Untätigkeit zurecht, dann aber aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ein paar Frauen fegten den Platz mit Reisigbesen glatt, dann kamen Männer, die Pfosten einschlugen. Anschließend wurde ihre Plane befestigt, aber alle waren sich einig, das reicht nicht. Es tauchten weitere Stoffbahnen auf, die drapiert wurden, es sah schon richtig gut aus. Kinder schleppten Steine herbei, und legten sie auf die Enden am Boden. Das hatten sie damals in Waal auch getan, um den Wind abzuhalten. Die Krönung war ein Teppich, riesig, den man auf den sauber gefegten Boden legte. Jemand brachte ein Fell, ein anderer Decken, ein Schlaflager wurde vor dem Wagen errichtet. Den Abschluss bildete ein Baldachin, der über dem Eingang an Pfosten befestigt wurde. Eine Feuerstelle darunter und sogar ein Hocker war aufgetaucht.
Dann standen alle gespannt da und sahen zu, wie Simone und Dorran fast ehrfürchtig ihr Zelt betraten. Es war wunderbar, durch die bunten Stoffe an den Seiten schimmerte das Licht herein, der Teppich machte es wohnlich und das Bett sah gemütlich aus. Beide bedankten sich überschwänglich. Alfonso freute sich über ihr Staunen. „Das haben die Leute gern getan, das ist ja jetzt auch ihre Schule. Jeden Tag werden ein paar Kinder zum Unterricht kommen. Passt auf, dass sie immer die Schuhe ausziehen, sonst ruinieren sie gleich euren neuen Teppich.“ Er erklärte ihnen, dass jeder Schüler einmal die Woche einen Wertstein für den Unterricht bezahlen, und Nahrungsmittel mitbringen würde. Sollte ihnen dennoch etwas fehlen, sollten sie sich einfach an ihn wenden. So konnten sie den Winter gut überstehen und bräuchten wenig einzukaufen.