Scarlett Taylor. Stefanie Purle
Die Frau nickt und stützt ihr Gewicht auf einen weißen Gehstock mit goldenem Griff, der mich an den des schwarzen Königs erinnert. „Ganz recht, genau die.“
Neugierig komme ich hinter Fletchers Rücken hervor und sehe sie an. Ihr Körper ist in mehrere Lagen Gewänder gehüllt, alle kunterbunt mit unterschiedliche Mustern, die nicht zusammenpassen. Sie trägt massenweise Ringe an den Fingern, genau wie ihr Bruder.
„Und was wollen Sie?“, will Fletcher wissen und deutet mir mit der Hand an, ihr nicht zu nahe zu kommen. „Man sagt, Sie seien tot.“
Roberta lacht ein glockenklares Lachen, das so süßlich zart klingt, dass einige Vögel mit einstimmen. „Ja, das sollten auch alle glauben.“
„Du bist meine Tante?“, frage ich vorsichtig und gehe an Fletchers warnender Hand vorbei.
Roberta nickt und streckt ihre speckige Hand aus. Ohne weiter zu überlegen, ergreife ich sie und komme ihr noch näher. Sie lächelt und legt wieder leicht den Kopf schief. Ihre Augen wirken freundlich und ihr Blick ist liebevoll. „Scarlett“, sagt sie schließlich gerührt und schluckt die aufkommenden Tränen hinunter.
Ich habe das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, lasse es dann aber bleiben. „Ich wusste nicht, dass ich noch eine Tante habe“, erkläre ich, blicke zu Fletcher und dann wieder zu Roberta.
„Man sollte denken, ich sei tot“, sagt sie. „Der schwarze König durfte nicht wissen, dass ich noch am Leben bin. Er hätte mich bis in alle Ewigkeit eingesperrt, damit ich dir nichts von deinem Erbe erzähle.“
„Aber der Fluch...“, beginne ich, doch Roberta lacht nur.
„Nein, mir konnte der Fluch nichts anhaben. Ich bin die Schwester des schwarzen Königs, ein Fluch hält mich nicht auf“, erklärt sie, wobei sie noch immer meine Hand hält. „Aber er hat andere Möglichkeiten, jemanden zum Schweigen zu bringen.“ Roberta blickt finster zu Boden, als kämen ihr schmerzhafte Erinnerungen in den Sinn, die sie mit einem Kopfschütteln zu vertreiben versucht. „Aber nun bin ich ja hier, Scarlett.“
„Und was genau wollen Sie?“, fragt Fletcher erneut misstrauisch.
„Ich werde meine Nichte in die Kunst der königlichen weißen Magie einführen. Ich bin schließlich von königlichem Blut, nicht so ein Stümper wie du!“, zischt sie und ich lasse erschrocken ihre Hand los.
Fletcher will etwas sagen, doch ich gehe dazwischen. „Immerhin hat er sich angeboten, als niemand sonst da war, um mich einzuweisen!“, verteidige ich ihn hastig.
Roberta senkt den Blick und schüttelt mit dem Kopf. „Tut mir leid. Vielleicht war ich einfach zu lange allein. Ich habe vergessen, wie man mit anderen Hexen umgeht“, entschuldigt sie sich mit sanfter Stimme.
„Wo waren Sie in den letzten siebenundzwanzig Jahren?“, fragt Fletcher.
Sie seufzt und dreht den goldenen Griff ihres Gehstocks in der speckigen Hand. „Mal hier, mal da. Von Sibirien, bis Südafrika, und überall dazwischen. Immer allein und immer auf der Flucht.“
Fletcher sieht sie argwöhnisch an und zieht die Augenbrauen zusammen, sodass sich eine Zornesfalte auf seiner Stirn bildet. „Wieso sollten wir Ihnen vertrauen?“
Roberta funkelt ihn mit ihren kleinen, schwarz geschminkten Augen an. „Ich will genau wie ihr, dass der schwarze König vom Thron stürzt. Am liebsten würde ich ihn selbst enthaupten, aber das geht ja bekanntlich nicht, außer ich nehme meinen eigenen Tod in Kauf, und glaubt mir, ich bin fast so weit, das in Erwägung zu ziehen!“, schreit sie, ballt ihre Hände zu Fäusten und zieht die Schultern hoch. „Und außerdem bin ich eine weiße Hexe, verdammt noch mal! Eine weiße Hexe, von königlichem Blut! Wer sollte Scarlett besser in die königliche weiße Magie einführen, wenn nicht ich?“
„Beweisen Sie es!“, fordert Fletcher sie gelassen auf und verschränkt die Arme vor der Brust. „Beweisen Sie, dass Sie eine weiße Hexe sind und das die Natur Ihnen wohlgesonnen ist.“
Roberta seufzt genervt und schließt die Augen. Ich rücke vorsichtshalber dichter an Fletcher, da ich keine Ahnung habe, was nun passiert. Wird sie einen Sturm herbeizaubern, oder vielleicht sogar einen Hurrikan?
Sie hebt ihre wallenden Umhänge an und sucht festen Halt auf dem Waldboden. Dann beginnt sie zu atmen, so wie Fletcher es tat, doch bei ihr hebt und senkt sich ihr enormer Busen bei jedem Atemzug. Ein leichter Wind kommt auf, den Fletcher belächelt und kopfschüttelnd registriert.
Doch dann passiert etwas. Es fühlt sich an, als würde sich der Boden lockern. Um uns herum poltert und kracht die Erde. Ich will wegrennen und zerre an Fletcher, doch er bleibt gelassen und drängt mich zur Ruhe. Er wirkt erstaunt und andächtig.
Das Poltern geht in ein sanftes Vibrieren über und um Roberta herum wachsen bunte Pilze kreisförmig aus dem Boden. Sie stecken ihre erst noch zarten Köpfchen aus der Erde, sprießen in die Höhe und entfalten sich wie Regenschirme. Einer nach dem anderen öffnet sich und zeigt sein rotes Haupt mit den kleinen weißen Punkten darauf.
Roberta öffnet die Augen und tritt aus dem Pilzkreis heraus, während Fletcher zu Klatschen beginnt. „Respekt“, sagt er und verbeugt sich lässig.
„War das gut?“, hake ich vorsichtig im Flüsterton nach.
Fletcher nickt. „Oh ja, sehr sogar. Pilze sind am Schwierigsten“, erklärt er knapp und lässt mich ahnungslos zurück. Er läuft Roberta entgegen und reicht ihr die Hand. „Freut mich, Sie kennenzulernen, ich bin Fletcher.“
„Roberta“, sagt sie knapp, reicht ihm hastig die Hand und entzieht sie ihm genauso schnell wieder.
Offenbar ist durch den Pilzzauber das Kriegsbeil begraben worden und Fletcher vertraut ihr plötzlich.
„Was haben Sie ihr bislang beigebracht?“, fragt Roberta Fletcher, als ich zu den beiden stoße.
„Ich habe sie nur einen Elementenzauber wirken lassen.“
„Mehr nicht? Und wie war sie?“
Fletchers Augen werden groß und er nickt. „Sehr gut! Sie hat einen Orkan heraufbeschworen, gleich beim ersten Versuch!“
„Nun ja, alles andere hätte mich auch gewundert“, entgegnet Roberta und wirkt dabei äußerst hochnäsig.
Ich komme mir seltsam fehl am Platz vor, während ich stumm dabeistehe und zuhöre, wie sich zwei weiße Hexen über meine magischen Kräfte austauschen.
„Ich wollte ihr gerade die Herbstzauber beibringen.“
„Papperlapapp“, zischt Roberta und schüttelt angewidert mit dem Kopf. „Sie ist eine Prinzessin, sie gibt sich doch nicht mit solchen Kleinigkeiten ab!“
„Und was schlagen Sie stattdessen vor?“
„Lassen wir sie Eis zaubern, oder Schnee! Das wäre mal was!“
„Eis oder Schnee?“, wiederhole ich fragend und dränge mich zwischen die beiden. „Wir haben Ende September!“
„Gerade deswegen ja!“, sagt Roberta und nickt euphorisch. „Damit kannst du dir Punkte auf der weißen Magie-Skala gutschreiben!“
Ich blicke ratlos zu Fletcher, der die Mundwinkel verzieht, mit dem Kopf wackelt und schließlich nickt. „Das wäre schon was.“
Kapitel 10
Fletcher, Roberta und ich laufen hinunter zum See. Fletcher geht vor, danach folgt Roberta und den Schluss bilde ich. Trotz ihres Alters, scheint es Roberta leicht zu fallen, über die Steine und Baumstümpfe zu springen, den Ästen auszuweichen und den schmalen Pfad hinabzusteigen. Ich bin die einzige, die keucht, stolpert und von Ästen halb erschlagen wird.
„Wann war deine Aktivierung?“, fragt Roberta während des Gehens.
„Du meinst, wann ich den ersten Spruch aufgesagt habe? Vor