Der Junge aus der Vorstadt. Mario Worm

Der Junge aus der Vorstadt - Mario Worm


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gleiten zu lassen. Gewiss, man hatte Frau Yücksel schon dreimal wegen Diebstahls in Supermärkten mit einer Geldstrafe bedacht. Aber auch hier waren die Schäden eher geringfügig, und auch bei diesen Fällen lag eine außergewöhnliche finanzielle Belastung der Angeklagten vor. In epischer Breite baut er ein Mitleidskonstrukt auf und kommt nach ausschweifenden Argumentationen zu dem Schluss: „Deshalb kann ich die Freiheitsstrafe von vier Monaten, wie sie die Staatsanwaltschaft fordert, nicht nachvollziehen. Ich bitte das hohe Gericht um eine entsprechende Bewährungsstrafe. Und auch wenn der Herr Staatsanwalt es vielleicht vergessen hat, es gibt im 243er auch noch die Ziffer 2, die die Verfahrensweise bei Geringfügigkeit relativiert.“ So, das war es. Ein kurzer Blick auf die Uhr, drei Minuten noch. Hunscha würde kaum Zeit haben, auf die Ausführungen reagieren zu können. Falk hatte richtig kalkuliert. In diesem Moment schaute der Vorsitzende auf seine Armbanduhr und ließ seine höchst richterliche Stimme ertönen: „So, Herrschaften. Das war es für heute. Dank des umfangreichen Wortschwalls Ihres Kollegen sind wir heute ja ein reichliches Stück weitergekommen … Aber genug der Ironie. Nach Lage der Dinge sehen wir uns am Mittwoch zur letzten Veranstaltung vor der finalen Examensprüfung. Und damit Sie bis dahin nicht aus der Übung kommen, überlegen Sie, wie das Gericht in diesem Fall entschieden hätte. Machen Sie sich Notizen! Einen von Ihnen wird es treffen, der mir dann seine Urteilsverkündung und vor allem die Begründung in allen Einzelheiten darlegen darf. Auf Wiedersehen.“ Auch das noch! Als wenn man, so kurz vor der entscheidenden Prüfung, nicht schon genug zum „Büffeln“ hatte. Hunscha eben! Unter leichtem Murren schickt sich die angehende Anwalts- und Richterschaft an den gemieteten Saal der Kammer zu verlassen. Mütterchen Yücksel reißt sich das Tuch vom Kopf, schüttelt ihre schwarzbraune Mähne. Ihr Gastauftritt ist beendet. Gott sei Dank muss ich als Rechtsanwaltsgehilfin kein Examen ablegen! Auch ihr Verteidiger ist gerade im Begriff, sich der Ausgangstür zuzuwenden, als ein Brummen Hunschas ihn zum Umdrehen bewegt. „Falk! Kommen Sie bitte mal zu mir.“ Wieder lag Koch mit seiner Vermutung richtig, dass nun eine „Generalpredigt“ folgen würde. Der Doktor hatte ein Faible für Namen und deren Herkunft. Und so verwunderte es auch nicht, dass er mit diesem Wissen seinen Vortrag begann: „Herr Koch, Sie wissen, was Ihr Vorname für eine Bedeutung hat?“ „Ich denke, Sie werden es mir gleich erläutern.“ Hunscha überhört die kleine Provokation und fährt fort: „Falk kommt aus dem Germanischen, abgeleitet vom Vogel Falke, dem Schlauen, dem Sinnbild für Stärke und Klugheit. Nun, Ihre Stärke vermag ich nicht zu beurteilen, Ihre Klugheit schon. Nur heute war davon nicht allzu viel zu verspüren. Sie wissen, ich kannte Ihren Vater. Man kann sogar sagen, ich war mit ihm befreundet. Er war ein verdammt guter Anwalt. Sie könnten das auch sein! Sie sind ihm in vielen Dingen sehr ähnlich. Nur eins hätte er nie gemacht - ihm anvertraute Fälle auf die leichte Schulter zu nehmen. Auch wenn das hier kein richtiger Prozess war, ändert das nichts an der Tatsache, dass Sie in keiner Weise richtig vorbereitet waren. Was meinen Sie wohl, wie das Gericht nach Ihren Ausführungen wohl entschieden hätte?“ Mit hängendem Kopf antwortet der Anwalt in spe: „Ich denke, dass ich den Prozess verloren hätte.“ „Sehr richtig! Aber, ob nun verloren oder gewonnen, darum geht es nicht. In erster Linie geht es bei jeder Verhandlung um menschliche Schicksale und um die Umsetzung und Verwirklichung unseres deutschen Rechts. Dafür tragen Sie als Anwalt, egal für welche Seite Sie plädieren, immer die Verantwortung. Vergessen Sie das nie! Sie wissen, ich hege große Sympathie für Sie. Was Ihre Leistungen im Studium betraf, sind Sie der Beste dieses Studienjahrgangs gewesen, haben Ihr Referendariat erfolgreich abgeschlossen. Um Ihr zweites Examen und das womöglich folgende Richteramt mache ich mir keinerlei Sorgen. Ich weiß, dass Sie mit auswendig gelernten Paragraphen nur so um sich schmeißen können, aber das alleine wird Ihnen keinen Erfolg bescheren. Werden Sie endlich erwachsen und zwar, bevor man Sie auf die Menschheit loslässt! Ich gebe zu, dass das nicht einfach ist. Ihr Vater war auch ein Hitzkopf, aber, wie schon erwähnt, ein verdammt guter Jurist. Und Sie sind auf dem Weg dahin.“ Hunscha hatte gesagt, was er sagen wollte und dem Delinquenten rutschte nur ein leises, unverständliches Grummeln über die Lippen. Der Vorsitzende nickt ihm freundschaftlich zu und wechselt das Thema: „Haben Sie sich nun endlich Gedanken gemacht, wohin die Reise gehen soll?“ „Ich denke, ich entscheide mich für das Strafrecht.“ „Staatsanwaltschaft …?“ Koch wiegt mit dem Kopf: „Ich denke eher nicht.“ „Sie hätten auch die Kanzlei Ihres Vaters weiterführen können.“ „Das war es ja gerade, was ich nicht wollte. Erstens liegt mir Wirtschaftsrecht nicht, und zweitens hätte ich immer im Schatten meines Vaters gestanden.“ „Ja, das kann ich irgendwo verstehen. Trotzdem hätten Sie einen besseren Start gehabt. Das Werben um eigene Mandanten ist eine harte Herausforderung. Ein Messingschild an der Tür füllt noch keine Kanzlei.“ „Nun, mein Traum ist es immer gewesen, meinen eigenen Weg zu machen.“ „Traum? Ist das der richtige Ansatzpunkt?“ „Nennen Sie es Konsequenz oder Willen. Eine eigene Kanzlei bedeutet Unabhängigkeit. Vaters Räumlichkeiten sind ja vorhanden. Er hatte kurz vor seinem Tod den Flachbau gekauft. Was mir fehlt, ist einzig die Zulassung.“ „Die Zulassung bekommen Sie, das ist, denke ich, so gut wie sicher. Trotzdem wird es ein steiniger Weg werden.“ Hunscha sollte Recht behalten. Wie immer! Gute fünf Jahre sind seit diesem Gespräch vergangen. Fünf lange Jahre! Koch gießt sich den Rest Kaffee ein, diesen Rest, der schon so lange steht, dass seine Farbe den von Teer angenommen hat und dessen Geschmack eher einer Bitterfrucht als jenem aromatischen Genussmittel nahekommt. Er schaltet die Kaffeemaschine ab und geht mit seiner Tasse zur Fensterbank. Im Vorbeigehen streift sein Blick den Kalender. Heute ist Dienstag, der 12. Januar 2016. Die neben dem Kalendarium hängende Uhr signalisiert ihm, dass er noch eine halbe Stunde durchhalten muss. Heute bis 18.00 Uhr Sprechstunde verkündet das Schild, das draußen an der Eingangstür zur Kanzlei um Klienten wirbt. Dreißig Minuten, in denen noch ein potentieller Ratsuchender auftauchen könnte. Eigentlich waren da auch noch die vier Akten der Wirtschaftsprüfung eines ortsansässigen Gewerbetreibenden, die noch mit dem Betriebsergebnis verglichen werden müssten. Aber dafür war ja Morgen auch noch Zeit. Termin war eh erst nächste Woche. Falk Koch verspürte nicht die geringste Lust dazu, aber von irgendetwas musste man ja schließlich leben. Aber bitte nicht heute, nicht in den letzten dreißig Minuten! Stattdessen setzt er sich auf die Fensterbank und schaut hinaus. Vis-à-vis die Gleisanlagen, die in den Bahnhof Strausberg-Vorstadt führen, nur getrennt durch den tanzenden Flockenfall des winterlichen Niederschlags. Nun ist er also doch noch eingetroffen, der Winter. Er gibt mächtig an mit seiner weißen Pracht. Völlig verlassen steht sie da, die alte, schon nostalgisch anmutende Wasserpumpe, die einst zum Befüllen der Dampfloks diente und allmählich wandelt sich ihre Farbe, vom abblätternden Schwarz ins Weiß der dünnen Schneedecke. Ein Güterzug, der nur heutiger Technik gehorcht, donnert an dem Relikt vorbei. Die Zeiten ändern sich und doch - manches bleibt. So zum Beispiel die Fensterbank im einstigen Arbeitszimmer seines Vaters. Wie oft hatte er in seiner Kindheit hier gesessen, hinter ihm, der Vater am Schreibtisch, mit Zahlen jonglierend, er aus dem Fenster sehend, so wie jetzt. Jetzt gerade. Der Vater fehlte … Damals florierte die Kanzlei, Mandanten bettelten quasi um einen Termin. Und heute? Koch muss sich eingestehen, dass auch in den letzten zwanzig Minuten niemand seine Anwesenheit einfordern wird. Erst recht nicht bei diesem Wetter. Außerdem verspürt er ein unangenehmes Hungergefühl, welches sich durch ein unwirsches Magenknurren bemerkbar macht. Dagegen gibt es eigentlich nur eine Abhilfe. Er stellt die Kaffeetasse in die Spüle, wirft sich seine Jacke über, verschließt die Räumlichkeiten und betritt die winterliche Straße. Der seit einiger Zeit einsetzende Neuschnee bleibt liegen, türmt sich nun schon auf drei Zentimeter. Diese Pracht hätte man mal zum Heiligenabend haben müssen! Aber nein, da waren es ja sinnigerweise fünfzehn Grad plus, so dass man die Weihnachtsgans im Freien auf dem Holzkohlegrill hätte brutzeln können. Und von wegen Weihnachtsgans. Seit vor gut sechs Jahren, zwei Monate nach dem Tod seines Vaters, seine Beziehung in die Brüche ging, gab es weder Gans noch Baum. Koch lebte alleine, konzentrierte sich ausschließlich auf sein Studium und verbrachte die heiligen Abende im nahegelegenen Bistro, bei Döner und dauerblickender Plastikdeko. Und genau dahin führte ihn auch jetzt sein Weg, keine fünfhundert Meter entfernt, fast gegenüber vom Bahnhof Strausberg. Der Wind bläst ihm kalt entgegen, Wassertropfen rinnen übers Gesicht. Vielleicht sollte er doch mal in Betracht ziehen, einen dicken Mantel aus dem Kleiderschrank zu nehmen, anstatt mit seiner dünnen Lieblingslederjacke modische statt praktische Akzente zu setzen. Auf Höhe des Bahnhofsgeländes überquert eine unübersehbare, wuselige Gruppe von Passanten die Straße, hin zu den Parkplätzen, einem Befreiungsschlag gleich, ihrem wohl
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