Der Junge aus der Vorstadt. Mario Worm

Der Junge aus der Vorstadt - Mario Worm


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Sie verwirft ihren Wunschgedanken im Handumdrehen. Sekunden später erhebt er sich und geht auf das Ehepaar Hohmann zu, nimmt Sandra Hohmann zur Begrüßung in die Arme und reicht Lutz, ihrem Ehemann, freundschaftlich die Hand: „Was für ein seltener Besuch. Wir haben uns Jahre nicht mehr gesehen …“ „Ziemlich genau sechs“, bestätigt Hohmann. Koch deutet auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch: „Nehmt Platz! Möchtet ihr was trinken, ein Wasser, einen Kaffee vielleicht?“ Sandra schüttelt lächelnd den Kopf: „Nein danke. Deine Art von Kaffee kenne ich noch zu genüge.“ „Kann dir ja einen Besucherkaffee machen lassen.“ „Nein. Lieb gemeint.“ Ihr Lächeln schwindet. „Also gut, was führt euch her, was kann ich für euch tun?“ Sie wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Mann, der zustimmend nickt. „Sonja…“ Sie stockt, dann fährt sie fort: „Sonja steht unter Mordanklage.“ Koch schluckt, ist irritiert: „Sonja? Was ist passiert?“ Wieder zögert sie: „Darum geht es ja gerade. Wir wissen es nicht.“ „Nun mal schön langsam! Beruhige dich und erzähle mir alles in Ruhe.“ „Sonja soll ihren Lebensgefährten getötet haben. Die Beweise sind anscheinend erdrückend. Was allerdings fehlt, ist der Grund, ein Motiv. Man hat festgestellt, dass sie zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss einer Droge stand.“ „Sonja war ein Feind jeglicher Drogen und hatte auch kein Verständnis für Leute, die diese konsumierten.“ Lutz stimmt ohne Zögern ein: „Das ist es ja. Wir vermuten, dass ihr jemand das Zeug untergejubelt hat. An diesem Abend hatte sie eine Diskothek besucht. Vielleicht dort.“ „Wann war das?“ „Vor einem guten halben Jahr.“ Sandra fällt ihrem Mann ins Wort: „In zwei Wochen beginnt der Prozess.“ „In zwei Wochen? Da kommt ihr jetzt erst?“ „Das Gericht hat einen Pflichtverteidiger berufen.“ „Was soll denn der Mist? Warum seid ihr nicht gleich zu mir gekommen?“ Sandra zuckt mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Wie du schon sagtest, es ist Jahre her, und auf das Nächstliegende kommt man vielleicht nicht so schnell.“ „Zwei Wochen …“

      Erneut schaut sie zu ihrem Mann, als wolle sie von ihm eine Art Bestätigung erhalten: „Es geht auch nicht darum, dass du sie vertrittst. Wie schon gesagt, das Gericht hat einen Anwalt gestellt. Falk, wir brauchen deine Hilfe. Der Anwalt hat bei dieser Beweislast kaum Möglichkeiten auf mildernde Umstände zu plädieren, solange nicht der tatsächliche Tathergang und ein Motiv erkennbar sind. Und nur Sonja ist in der Lage darüber Auskunft zu geben. Das Problem besteht darin, dass sie seit ihrer Festnahme mit niemandem ein Wort gewechselt hat. Weder mit ihrem Anwalt, nicht mit der Gerichtspsychologin und auch nicht mit uns.“ „Verstanden. Und was kann ich tun? Habt ihr einen Plan?“ „Ich weiß, dass sie dich auch noch nach eurer Trennung geliebt hat…“ Und, weil man jemanden so richtig liebt, möchte man ihn loswerden. Und macht von einer Sekunde zur anderen Schluss – das und vieles andere geht Koch durch den Kopf. „Wir dachten, dass du sie mal besuchst. Vielleicht vertraut sie sich dir an.“ „Wie stellt ihr euch das vor? Eine Untersuchungshaftanstalt ist doch kein Sanatorium, in dem durchgängig Besuche möglich sind. Der Zugang ist nur der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft vorbehalten. In diesem Fall bin ich weder das eine noch das andere.“ „Wir haben Sonjas Verteidiger unseren Vorschlag unterbreitet und er hat gesagt, er würde dafür sorgen, dass du mit ihr sprechen kannst. Vorausgesetzt, du machst es. Hier ist seine Karte. Wenn du uns helfen willst, dann solltest du ihn anrufen.“ Mit zittriger Hand schiebt sie die Visitenkarte über den Schreibtisch. Nein, das war keine Bitte, es war ein Flehen. In ihren Augen spiegelte sich die Angst einer besorgten Mutter. „Natürlich werde ich alles Mögliche versuchen. Ich werde diesen Anwalt gleich mal anrufen. Gebe euch dann sofort Bescheid, wenn ich was Neues weiß.“ „Danke.“ „Nicht dafür. Ist doch selbstverständlich.“

      Unmittelbar, nachdem die Hohmanns die Kanzlei verlassen hatten, drückt er die Karte seiner Rechtsanwaltsgehilfin in die Hand: „Sei bitte so nett und vereinbare mit diesem Herrn einen Termin. Ich will ihn schnell treffen. Wenn möglich, gleich morgen Vormittag. Sag ihm, es geht um den Fall Sonja Hohmann.“ Alisha greift wortlos die Karte und hebt den Hörer ab.

      Koch macht sich auf den Weg zu Dr. Winfried Sandow. Dieser führt ihn in die Berliner Kantstraße. Unweit des Kurfürstendamms betreibt der Kollege in diesem, vom Volksmund als Nobelgegend titulierten westlichen Teil der ehemals getrennten Frontstadt, seine Kanzlei. Ein goldfarbenes Schild an der Haustür weist den Weg über die Stufen, die in die erste Etage führen. Schon der Empfangsbereich zeugt davon, dass hier vorwiegend Klienten Rechtsbeistand suchen, deren üppige Einkünfte das Einholen gut bezahlter juristischer Ratschläge erst möglich machten. Hier waren kaum sogenannte „Normalbürger“ in der Kartei zu erwarten. Die nette Empfangsdame erkundigt sich nach seinem Anliegen und dirigiert ihn mit den Worten „Herr Dr. Sandow ist gleich für Sie da“ in das Wartezimmer. Im Gehen fragt sie noch: „Darf ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten?“ Der „Kaffeejunkie“ verneint dankend und nimmt auf einem der edlen Ledersessel Platz. Koch sieht sich um. Ein größerer runder Tisch, vermutlich aus hochglanzpoliertem deutschem Eichenholz, sicherlich handgeschnitzt, steht im Zentrum des Zimmers, eingerahmt von den vier Ledersesseln. An den Wänden befindet sich eine schlichte, aber sicherlich hochwertige Tapete, die durch fünf Gemälde aufgewertet wird. Die aufwendig verschnörkelten Bilderrahmen lassen an einen barocken Stil erinnern. Das Blattgold hat allerdings seine besten Tage hinter sich. Die dunkelroten Samtvorhänge an der Fensterfront runden den ambivalenten Eindruck zwischen Seriosität und Pomp ab. Hier sind Prunk und Lifestyle gleichermaßen anzutreffen. Wer hier in diesem Raum sitzt, musste einfach das Gefühl haben richtig zu sein. Trotz aller edlen Ausstattung – man fühlte sich gut aufgehoben und kam wahrscheinlich erst auf andere Gedanken, wenn man die Schlussrechnung aus dem Briefkasten gefischt hatte. Das Ensemble, das Koch hier erlebte, war nicht zu vergleichen mit der spartanischen Einrichtung seiner eigenen Kanzlei. War diese vornehme Adresse der Grund, dass er nicht so viele Aufträge zu verzeichnen hatte, oder lag es doch eher daran, dass Sandow mehrere Jahre Berufserfahrung besaß? Jahre, in denen er kaum einen seiner Prozesse verlor, sich als Staranwalt profilieren konnte. Umso mehr stellt sich Koch die Frage, weshalb ein Gericht gerade solch einen Anwalt als Pflichtverteidiger einsetzte und schließlich auch, warum sich Sandow auf einen wenig lukrativen Prozess einließ, anstatt sich mit Zeitmangel herauszureden. „Herr Koch. Kommen Sie bitte!“ Die nette Empfangsdame führte ihn in einen großzügigen Raum, wo ihm der prominente Rechtsbeistand freundschaftlich die Hand entgegenstreckte: „Guten Tag, Kollege. Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Koch mustert sein Gegenüber. Irgendwie hatte dieser Sandow eine gewisse Ähnlichkeit mit Hunscha. Er war womöglich im gleichen Alter, hatte ebenfalls eine Halbglatze und die Nickelbrille im Gesicht gab ihm den Touch eines Intellektuellen. Gehen allen erfolgreichen Anwälte im fortgeschrittenen Alter die Haare aus? Eine Anwaltskrankheit, hervorgerufen vom Stress der Prozesse? Dann bräuchte er sich im Moment ja keine Gedanken machen.

      „Nun…“, begann der Hausherr. „Wenn Sie mich fragen, ist das ganze Unterfangen eher sinnlos. Ich habe dem Mandat auch nur zugestimmt, weil mich das Ehepaar Hohmann sehr eindringlich darum gebeten hat. Die Sache ist eigentlich klar. Fräulein Hohmann hat unter Drogeneinfluss ihren Lebensgefährten umgebracht. Die Beweise der Staatsanwaltschaft sind mehr als eindeutig, Zeugen sind vorhanden. Was fehlt, ist ein Geständnis und der reale Tathergang. Speziell aus dem letzteren Umstand könnte man, mit ein wenig Glück, vielleicht noch etwas Potenzial für verminderte Schuldfähigkeit sehen. Glaube ich aber selbst nicht so recht daran. Der Drogenkonsum ist das einzige Argument, das ich anführen kann. Sie wissen selbst, dass das weniger als wenig ist. Ein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft bestätigt die volle Schuldfähigkeit, und wegen der äußerst brutalen Ausführung des Tötungsdeliktes ist die besondere Schwere der Tat quasi unausweichlich. Und meine Mandantin schweigt beharrlich. Ich gehe auch davon aus, dass sie diese Haltung während des Prozesses nicht ändern wird. Aber wie schon erwähnt, ist das im Grunde genommen unerheblich. Aber fahren Sie ruhig zu ihr. Mit ein wenig Glück entlocken Sie ihr ja vielleicht ein Hallo.“ Koch sieht ihn fragend an: „Nehmen wir mal an, sie redet wirklich mit mir. Welche Strategie schlagen Sie vor?“ „Wie schon gesagt, es gibt keinen wirklichen Anhaltspunkt.“ Sandow greift hinter sich, holt eine Akte aus dem Beistellschrank und reicht sie über den Tisch: „Hier, nehmen Sie die Akte mit, bringen Sie diese aber mindestens drei Tage vor Prozessbeginn zurück. Das ist zwar nicht ausdrücklich erlaubt, aber auch nicht unbedingt illegal. Blättern Sie das Ding durch, dann wissen Sie, wovon ich rede! Ich habe für Sie einen Termin in der Untersuchungshaftanstalt organisiert.


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