Der Junge aus der Vorstadt. Mario Worm

Der Junge aus der Vorstadt - Mario Worm


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Lächeln den Kopf: „Lesen Sie alle Dokumente! Wenn Sie dann noch immer der Meinung sein sollten, dass es Zweifel gibt, bin ich sehr gerne dazu bereit, Ihnen den Fall abzutreten. Wer verliert schon gerne freiwillig. Ich habe mich ohnehin nicht darum gerissen, die Sache zu übernehmen, war aber noch jemandem einen Gefallen schuldig. Also lesen Sie und urteilen dann selbst.“

      Koch packt die Akte unter seine Jacke, um sie vor dem erneut einsetzenden Schneefall zu schützen, und macht sich auf den Rückweg in seine schmucklose aber vertraute Kanzlei. Ja, Sandow müsste man sein, dann könnte man sich seine Klienten aussuchen. Es sei denn, man müsste jemand einen Gefallen tun.

      Der Inhalt des Ordners ist wirklich erschreckend. Gleich auf den ersten Seiten sind Kopien der Tatortfotos. Man sieht einen unbekleideten Mann in einer Badewanne. Der linke Arm baumelt schlaff über den Wannenrand, die Kehle ist anscheinend durchschnitten. Neben dem Kopf steht das kleine dreieckige Schild mit der Nummer eins. Damit zeigt die Kriminaltechnik, dass dies das erste Foto vom vermuteten Tatort ist und weitere Fotos folgen. Foto zwei zeigt den Oberkörper des Opfers, ebenfalls blutverschmiert. Foto drei und vier stellen das Badezimmer in der Totalen da, Blutspritzer sind an den Kacheln und auf dem Fußboden erkennbar. Nummer sechs, sieben und acht, bilden den kleinen Flur ab. Man sieht einen Garderobenschrank mit aufgezogenen Fächern, auf dem Boden liegen beschriebene Papierseiten. Es folgen vier Bilder aus unterschiedlicher Perspektive, die die vermutliche Tatwaffe, ein großes Fleischermesser zeigen, das in einer dunklen Ecke des Flurs liegt. Schließlich befinden sich noch Fotos vom Wohnungseingang, dem Treppenhaus und eine Außenansicht des Gebäudes in der Mappe. Als nächstes Blatt ist das Untersuchungsprotokoll einer DNA Probe abgeheftet. Sie bestätigt, dass die Blutspritzer auf der Kleidung der Beschuldigten mit absoluter Sicherheit dem Blut des Opfers entsprechen. Wieder sind Fotos mit Nummern beigefügt. Sie zeigen eine blutbefleckte Jacke, einen Pulli sowie eine Hose der Beschuldigten. Allesamt Textilien, die diese bei ihrer Festnahme trug. Koch legt die Akte auf seinen Wohnzimmertisch und zündet sich nachdenklich eine Zigarette an. Sonja! Warum, Sonja? Kräftig zieht er an dem weißen Stäbchen, lässt die Glut tiefrot aufleuchten, stößt den Rauch aus. Im Gegensatz zu dem Nebel des Rauchs, der sich im Zimmer verflüchtigt, vergehen die Erinnerungen nicht. Nostalgische Bilder einer unbeschwerten Zeit bauen sich vor ihm auf, sind einfach da, wollen sich nicht vertreiben lassen.

      Das erste Aufeinandertreffen war damals in der Uni. Er ackerte im Jurastudium, sie war im Fach BWL eingeschrieben - und erst im zweiten Semester. Eigentlich wäre man sich nie begegnet, wenn da nicht die Mensa gewesen wäre. Er wartete mit einem Tablett in der Schlange, das er in Richtung Kasse schob. Nichtsahnend, dass sie hinter ihm steht. Warum sollte er auch hinter sich schauen? Nach zehn Minuten gab die Kassiererin die fälligen neunzig Cent für seinen Pudding ein. Er wühlte seine Taschen durch, stellte fest, dass er sein Portemonnaie oben im Hörsaal vergessen hatte. Eine Hand von hinten legte einen Euro auf sein Tablett und eine zarte Stimme forderte ihn ungeduldig auf: „Nun mach schon! Ich würde gerne auch noch was essen, bevor die Vorlesung wieder anfängt.“ Er erinnert sich an seinen roten Kopf. Da stand sie vor ihm – er sah sie zum ersten Mal. Er blickte in ihre blauen Augen, bewundert ihre bis zum Busen reichenden, gewellten, hellbraunen Haare, die einem Werbefilm hätten entsprungen sein können. Und ihr bezauberndes Lächeln. Sie lächelte fast immer, wie er später feststellen sollte. Ihm, dem ansonsten so sprachgewandten Falk Koch, fehlten die Worte, so begeistert war er von dem Anblick seiner Mittagsbekanntschaft. Nur mühevoll brachte er wenigstens ein bemühtes Danke zustande. „Bitte. Nun mach schon, ich habe Hunger!“, forderte sie leicht genervt. Und zahlte. Sie schob sich mit ihrem Essen an ihm vorbei und verschwindet langsam aus seinem Blickwinkel. Fasziniert hatte er ihr hinterher gesehen. Von diesem Zeitpunkt an rannte er fast zwei Monate lang, immer zur gleichen Zeit, in die Mensa, hoffnungsvoll und dennoch vergeblich, um sie wiederzusehen. Schließlich traf er sie, kurz vor den Semesterferien, an der Bushaltestelle. „Hallo. Ich schulde dir noch einen Euro“, sprach er sie von hinten an und hielt ihr das Geldstück entgegen. Irritiert schaute sie sich um, dann fiel es ihr wieder ein: „Jetzt weiß ich endlich, warum ich mir die ganze Zeit nichts zu essen leisten konnte ...“ Und wieder beschlich ihn dieses blöde peinliche Gefühl. Wie nun weiter? „Habe die ganze Zeit nach dir Ausschau gehalten.“ Das war alles, was er mit erneuter Schamesröte hervorbrachte. Sie lächelte. Oh Gott, dieses Lächeln! „Nun hast du mich ja gefunden. Gibst du mir den Euro nun wieder?“ Scheiße, er bemerkte, dass er, geblendet von ihrer Schönheit, das Geldstück immer noch krampfhaft in seiner Hand verbarg. „Sich davon zu trennen fällt schwer“, hatte er damals lachend erwidert und das „Corpus Delicti“ in ihre Hand gedrückt. Dann kam der Bus und stellte fest, dass man ein großes Stück gemeinsamen Weges hatte. Schließlich musste er sich verabschieden, aussteigen, nicht ohne ihr das Versprechen abgetrotzt zu haben, dass man sich morgen in der Mensa wiedersehen würde. Im Gehen schaute er noch einmal zurück. Sie lächelte ihm nach. Oh Gott, dieses einmalige, unvergessliche Lächeln …

      Falk Koch drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, greift erneut zur Akte und liest die einzelnen Zeugenaussagen. Alles ist klar, nachvollziehbar und verständlich notiert. Kann eine Frau wie seine Sonja, dieser lebensbejahende Mensch, solch ein abscheuliches Verbrechen begangen haben? Für ihn unvorstellbar. Doch die Akte spricht eine andere Sprache.

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