Die Midgard-Saga - Hel. Alexandra Bauer
voller Bewunderung zusah, wie Wal-Freya mit jedem Rüstungsteil zu der imposanten Gestalt heranwuchs, die sie so sehr bewunderte.
„Jetzt kümmern wir uns um deine Ausrüstung“, verkündete Wal-Freya feierlich.
„Mein Wams hat, soweit ich weiß, keine Taschen“, erwiderte Thea lächelnd.
Wal-Freya verschränkte die Arme vor der Brust. „Dein alter Flickenwams! Baba Jaga konnte die Spuren der Wolfsattacke zwar gut beseitigen, aber den musst du nun wirklich nicht mehr tragen. Außerdem brauchst du einen neuen Umhang. Niflheim ist kalt.“
Thea zwinkerte. „Ich weiß.“
„Natürlich tust du das. Dein Kettenhemd hast du ebenfalls beschädigt, deinen Helm verloren …“ Sie runzelte die Stirn. „Was hast du in Jötunheim eigentlich nicht kaputt gemacht?“
Thea lachte. „Mein Schwert!“
„In Hel befürchte ich das Schlimmste für Kyndill“, erwiderte Wal-Freya trocken.
Thea lachte. Wal-Freya hatte versprochen, ihr eine gute Freundin zu sein. Obwohl sich eine Freundin wohl weniger oft wie eine Mutter aufspielte, stellte Thea immer wieder mit Freude fest, dass Wal-Freya ihr Versprechen problemlos einlöste. Thea fühlte sich wohl in der Nähe der Walküre, auch wenn sie ihre Familie jeden Tag vermisste. Die bevorstehende Reise entlockte ihr jedoch das erste Mal seit langer Zeit ein freudiges Gefühl. Sie war bereit, ihr Schicksal anzunehmen. Je schneller sie ihre Mission zum Ende brachte, desto schneller würde sie Mats und ihre Eltern wiedersehen. Die Gewissheit, dass sie mit ihren Taten nicht nur die Götter rettete, sondern auch ihrer Familie ein sorgenfreies Leben fernab von Ragnarök sicherte, ließ sie der Aufgabe mit Zuversicht entgegenblicken. Schmunzelnd winkte sie ab. „Wenn es selbst Mjölnir nicht schafft, Kyndill zu zerstören, wird es mir erst recht nicht gelingen.“
„Allerdings, sonst hättest du es in Jötunheim sicher kaputt bekommen.“ Wal-Freya lachte beherzt und nahm Thea in den Arm. „Jetzt komm! Ich kann es kaum erwarten, dir deine Sachen zu zeigen. Ich bin so gespannt, was du dazu sagst.“
Sie ergriff Theas Hand, führte sie hinaus in die Halle und von dort in einen weiteren Nebenraum. Thea betrat die große Kammer zum ersten Mal und wie alle Zimmer war auch dieses mit den goldenen Steinen errichtet worden, aus denen ganz Asgard bestand. Wal-Freya hatte es jedoch geschafft, dem Raum eine besondere Note zu geben und ihn zu einem Rückzugsort zu machen. Eine riesige Truhe befand sich auf der rechten Seite. Weit hinten, in der linken Ecke, stand ein großes Himmelbett mit hölzernen Streben, die einen dunkelblauen Stoff über seidenen Kissen und Decken hielten. Zwischen den beiden Fenstern an der Frontseite wuchs von irgendwoher eine Korkenzieherweide und spannte sich über die gesamte Decke. Fasziniert folgte Thea den Ausläufern mit den Augen, da berührte Wal-Freya sie an der Schulter und richtete ihre Aufmerksamkeit auf einen Stummen Diener, der neben einem Sessel aufragte. Thea stand augenblicklich der Mund offen. Unter einem schwarzen Umhang, dessen Ränder mit goldenen Knotenmustern abgesetzt waren, leuchtete eine rote Tunika, auf deren Brust mit goldenem Faden das Symbol einer Frau gestickt war. Thea erkannte es wieder. Es zierte auch die Schnalle ihres Schwerttornisters – eine Frau in einem langen Gewand, die mit ausgestreckten Armen einen Becher in den Händen hielt.
„Alles für dich!“, verkündete Wal-Freya.
„Das ist doch viel zu kostbar“, wisperte Thea überwältigt.
„Du wohnst in Asgard bei der Liebesgöttin und du reitest bald auf einem Walkürenpferd, da musst du einfach kostbar aussehen“, erwiderte Wal-Freya mit einem Lächeln. „Ich hätte eine blaue Tunika bevorzugt, aber Sigrún meinte, sie habe sich an die rote gewöhnt. Leider musste ich ihr Recht geben, obwohl sich deine roten Haare auf Blau sicher noch schöner abgesetzt hätten.“
Thea tastete die Stickarbeit auf der Brust der Tunika ab. „Hat das eine Bedeutung?“
„Natürlich. Es ist das Symbol meiner Walküren.“
„Aber … ich bin keine von deinen Walküren.“
Ein Lächeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Das ist richtig, nur ist Sigrún schon lange davon überzeugt, dass du einen Platz in ihren Reihen bekommen solltest.“
Thea konnte nicht anders als erstaunt die Augenbrauen zu heben. Ungeachtet dessen legte Wal-Freya den Umhang über den Arm und zog als nächstes die Tunika vom Diener. Theas Blick fiel auf ein kurzärmliges, goldenes Kettenhemd. Sie mochte kaum glauben, was sie da sah. Wieder berührte sie das Kleidungsstück mit den Fingerspitzen, fuhr die einzelnen Kettenglieder nach und bewunderte die Art und Weise, wie das Rüstungsteil gefertigt worden war.
„Aber ist Gold nicht ein bisschen schwer?“, sagte Thea verhalten.
Wal-Freya warf Umhang und Tunika auf den Sessel. „Dummerchen! Das ist kein Gold.“ Sie holte nun auch das Kettenhemd vom Diener und reichte es Thea. Erneut konnte sie nur staunen, denn das Rüstungsteil wog nicht mehr als ein gewöhnlicher Mantel.
„Aber, wenn es kein Gold ist …“
„Muss es aus einem Metall sein, das es in Midgard nicht gibt“, erwiderte die Walküre mit einem Zwinkern. „Durch dieses Kettenhemd kommt sicher keine Wolfsklaue mehr durch. Los! Zieh es an! Ich kann es kaum erwarten dich damit zu sehen!“
Ehe Wal-Freya in Versuchung kommen konnte ihr zu helfen, löste Thea den Gürtel, legte Kyndill auf den Sessel und streifte die Kleider ab. Die Wanin reichte ihr eine schwarze Hose und schob ein Paar Stiefel hinterher. Thea zog die Hose an, schnürte sie zu und schlüpfte in die Schuhe. Das Fell, mit denen diese gefüttert waren, schmiegte sich angenehm weich um ihre Füße. Schon stülpte ihr Wal-Freya eine langärmlige Steppjacke über den Kopf und ließ das Kettenhemd folgen.
„Wundervoll“, kommentierte Thea, die Leichtigkeit der Rüstung bewundernd. Sie fühlte die roten Borten am Ende der Ärmel und des Kragens. Auch diese zierten kunstvolle Knotenmuster.
„Und jetzt die Tunika“, verkündete Wal-Freya feierlich.
Thea hob die Arme und schlüpfte in das Kleidungsstück. Als sie an sich herabsah, fühlte sie ihr Herz schneller schlagen vor Stolz. Erneut fuhr sie mit den Fingerspitzen über das Walkürensymbol. Sie war Teil von etwas Großem geworden. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich besser gefühlt – in keinem ihrer Leben. Aber auch für Wal-Freya schien dies ein erhebender Moment zu sein. Thea hatte in den Augen der Wanin selten so viel Freude gesehen.
Wal-Freya deutete auf Kyndill. „Schnall es um!“, forderte sie Thea auf und nahm etwas Abstand, um sie zu betrachten. Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck wurde abschätzend. „Sigrún ist ebenso wie du kein Freund von Kleidern. Aber ich finde, auch eine Kriegerin darf ein wenig verführerisch aussehen.“ Sie wandte sich um, hob den Deckel der Truhe an und warf noch einmal einen Blick hinter sich, während sie in der Kiste wühlte. Schließlich zog sie einen schwarzen Stoff heraus, breitete ihn vor sich aus und lächelte zufrieden.
„Oh bitte, Wal-Freya! Keinen Rock! Das behindert doch nur“, stöhnte Thea.
„Ich trage ein Kleid. Hast du schon einmal gesehen, dass mich das in irgendeiner Weise behindert hätte?“
„Nein, aber du bist eine Göttin. Sicher könntest du noch komplett eingewickelt kämpfen.“
Wal-Freya lachte lauthals. „Ja, vielleicht!“
„Wen sollte ich außerdem damit beeindrucken?“
„Mich!“ Wal-Freya trat an Thea heran und forderte sie auf, Steppjacke und Kettenhemd anzuheben. Kaum hatte sie Folge geleistet, band Wal-Freya den Stoff um Theas Hüfte. Erneut nahm die Wanin Abstand und nickte zufrieden. „Außerordentlich!“
Thea fuhr mit den Händen seitlich über den Rock. Tatsächlich ließ er an der Schnürung das komplette rechte Bein frei und zur linken Seite war er so tief geschlitzt, dass sie keinerlei Bewegungseinschränkung wahrnahm. Auch dieser Stoff war an seinen Rändern mit goldenen Knotenmustern verziert.
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass das kein Kleidungsstück von dir ist“, brummte Thea.
Wal-Freya