Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie. Jürgen Ruszkowski

Hugo Wietholz – ein Diakon des Rauhen Hauses – Autobiographie - Jürgen Ruszkowski


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der Gleichgesinnten im CVJM herrschte ein Miteinander, wie ich es noch nie erlebt hatte. Im Glauben ging es langsam voran, es gab auch Schwierigkeiten, aber das Lesen in der Bibel war schon eine Hilfe. Es gab eine Anleitung zur täglichen Morgenwache, für jeden Tag einen bestimmten Text.

      Oft machten wir Fahrten durch die Nordheide, nachts schliefen wir beim Bauern im Stroh. In einer Herberge in Schätzendorf erlebten wir beim Singen andere Gruppen. Dort hörte ich zum ersten Mal das Lied: „Wilde Gesellen vom Sturmwind umweht...“ mit dem Refrain: „Uns geht die Sonne nicht unter.“ Eines Tages sagte mir unser Jugendleiter, auf der nächsten Fahrt solle ich die Andacht halten. So etwas hatte ich ja schon oft gehört, doch wenn man selbst vor der Gruppe steht, das ist schon etwas eigenartig.

      Der Sonntag kam und es ging über die Holm-Seppenser Mühle, weiter zum Büsenbachtal. Unterwegs wurde Halt gemacht, und nun konnte ich meine vorbereitete Andacht vortragen. Es war bestimmt mit Zittern und Zagen, aber es ging ganz leidlich. Das Wort, das ich ausgesucht hatte, war aus dem Johannesevangelium, Jesus Christus spricht: „Ich lebe und ihr sollt auch leben.“ Das habe ich bis heute nicht vergessen.

      Im Büsenbachtal machten wir Rast und tobten herum. Da kam einer auf den Gedanken, den Wimpel von dem Ger, das ist die Stange, an der er befestigt ist, abzulösen. Wir teilten uns in zwei Gruppen und dann wurde das Spiel „Treiben“ durchgeführt. Der Ger wurde geschleudert und von da, wo er die Erde berührte, musste die andere Gruppe den Ger schleudern. Zu Anfang ging das alles prima, bis einer der Jungen versuchte, den Ger aufzufangen und so zugriff, dass er ihm in den Handballen fuhr. Jetzt mussten wir mit ihm auf dem schnellsten Wege zum Arzt in der nächsten Ortschaft. Die Fahrt war durch diesen Unfall schnell zu Ende gekommen. Uns aber war klar geworden, das war eine Riesendummheit.

      Bei unseren vielen Wanderfahrten waren wir immer eine große Schar und wenn wir in der Eisenbahn unsere Lieder sangen, gab es bei den Mitreisenden großes Staunen und viel Beifall.

      Bei all dem Erleben durfte die Ausbildung nicht zu kurz kommen. Oft war es am Montagmorgen nicht so leicht, richtig in Schwung zu kommen. Die Glieder waren von den Wanderungen oft noch müde.

      Die Weihnachtszeit kam heran, es gab viel zu tun. An der Ecke Eichenstraße gab es eine Apotheke. In dem Haus sollten wir beim Ausbau des Dachgeschosses zur Wohnung mitarbeiten. Das Schieferdach musste umgedeckt werden. Hier lernte ich, wie Schiefer eingebunden wird. Auch die Sanitäranlagen wurden neu eingebaut.

      Dann kam von der Schule die Aufgabe: En Prüfungsstück musste angefertigt werden und bis zur Weihnachtsausstellung der Innung fertig sein. Der Meister meinte, ich solle eine Kaffeedose aus Weißblech herstellen. Diese Arbeit war gar nicht so einfach. Das Blech durfte keine Falten haben, und die Lötstellen mussten ganz glatt und sauber sein. Es durfte an den Nähten nicht geschabt werden. Die Dose wurde termingerecht fertig, und der Meister meinte, sie sei gut geworden und ich könnte sie abgeben. Wie immer, fand die Ausstellung der Innung mit allen Arbeiten der Lehrlinge und Gesellen statt. Mit meinem Vater besuchte ich die Ausstellung. Es wurden interessante Stücke aus den verschiedenen Lehrjahren gezeigt. Für uns war auch wichtig, zu entscheiden, welcher Art mein Gesellenstück werden sollte. Wir suchten natürlich auch meine jetzige Arbeit. Plötzlich fanden wir meine Kaffeedose, herausragend auf der Fensterbank. Daran steckte ein blauer Zettel mit dem Vermerk „Prämiert“ und die Zeugnisnote „Sehr gut“. Als Preis bekam ich einen Fachkalender. Natürlich war mein Vater stolz auf seinen Sprössling.

      Am Sonntag vor unserer Jugendstunde gingen wir mit einer größeren Gruppe durch die Straßen, um andere junge Leute einzuladen, auch zum CVJM zu kommen. Zu diesem Dienst wurden wir eingeteilt, natürlich war das freiwillig. Auf einer Tafel am Eingang unseres Heims stand ein Wort Lord Williams, dem Begründer des CVJM: „Gerettet sein, gibt Rettersinn“. Dieser Lord Williams wurde in England später geadelt. Zuerst hatte es mit einer kleinen Gruppe in einer Gebetsgemeinschaft begonnen. Auch diese jungen Leute sind auf die Straße gegangen und haben eingeladen. Heute ist der CVJM eine weltweite Organisation mit vielen Vereinshäusern. Der Verein will keine Konkurrenz gegen die Kirche sein, doch bei der Amtskirche klaffte eine Lücke, die durch den CVJM ausgefüllt wurde.

      Bevor wir jeweils auf die Straße gingen, wurde unser Handeln im Gebet unter die Hand des Herrn gestellt. Zum ersten Mal, mit den Einladungszetteln in der Hand, auf die Straße zu gehen, war schon ein Wagnis. Es war das Jahr 1927. Die Erwerbslosigkeit war schon groß. Viele Gruppen der verschiedensten Parteien trieben ihr Unwesen. Ohne Straßenschlachten ging es schon nicht mehr ab. Wir sprachen trotzdem junge Männer an und etliche folgten unserer Einladung. Im Verein waren verschiedene Berufsgruppen, die ihre Veranstaltungen hatten, so konnte sich jeder aussuchen, wohin er gehen wollte. Immer aber wurde das Evangelium, die frohe Botschaft verkündigt, damit der Mensch heraus kommt aus seinem Todeskreis zu einem Leben mit Jesus Christus.

      Es tummelten sich ja draußen viele Weltanschauungsgruppen. Da waren nicht nur die Kommunisten, auch die SPD, die völkischen Gruppen, unter anderen die von Mathilde Ludendorff (am heiligen Quell der Germanen), eine gefährliche Gruppe. Auch die Nazis versuchten, durch diese Gruppe, politischen Boden zu gewinnen.

      Bei meiner Arbeit in der Fruchtallee, im Zinshaus meines Meisters, wohnte eine Familie, die dieser Gruppe anhing. Ich versuchte mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Was da gegen die Bibel und Gottes Wort hervorgebracht wurde, war unglaublich. Es war überhaupt nicht an sie heran zu kommen. Man spürte, diese Leute hatten so etwas, wie ein Brett vor dem Kopf. Der Stadtmissionar Dr. Witte rief zu einer Versammlung bei Sagebiel auf, um mit den Ludendorffern zu diskutieren. Der Saal in der Nähe des Gänsemarkts war brechend voll. Auch ich saß auf der Empore und schaute auf die große Versammlung. Pastor Dr. Witte versuchte, ihre Angriffe auf die Bibel zu widerlegen, aber immer wieder kamen Redner von der Gegenseite und brachten Texte aus der Bibel, ganz aus dem Zusammenhang gerissen. Man konnte mit Engelszungen reden, es half nichts, hier war eine Sperre, die man nicht beiseite bringen konnte.

      Eigenartig aber war, ich war oft froh, konnte abends in die Stille des Borsteler Waldes flüchten und in meiner Bibel lesen, um die Orientierung nicht zu verlieren. Später habe ich erkannt, wie wichtig es für das innere Wachsen des Glaubens war, denn was war noch alles in der Zukunft verborgen?! Nur einer, der alles in Händen hält, kann uns bewahren. So etwas von Bewahrung erlebte ich mehrere Male.

      Im Betrieb hatten wir ein Fahrrad, das für weite Entfernungen zur Kundschaft gebraucht wurde. Eines Tages bekam ich den Auftrag, etwas aus der Innenstadt zu besorgen. So fuhr ich mit dem Rad durch die Bankstraße, geriet mit dem Vorderrad in die Straßenbahnschiene und schlug hart aufs Pflaster. Da die Bankstraße eine Durchfahrtstraße zum Gemüsemarkt war, gab es hier sehr lebhaften Verkehr. Die Leute blieben stehen, als ich das verbeulte Rad aus den Schienen zog. In dem Augenblick kam mein Vater, der damals bei seinem Vater in der Bankstraße arbeitete, die Straße entlang und sah seinen Sohn inmitten einer Menschenansammlung stehen. Zum Glück hatte ich keine nennenswerten Verletzungen, und so war auch mein Vater froh und gab mir einen Wink, schnellstens mit dem ramponierten Rad zu verschwinden. Mein Meister sagte auch nicht viel, auch er war froh, dass es noch so gut abgegangen war. Das Rad wurde dann in unserer Werkstatt repariert.

      Mit Fahrrädern hatte ich überhaupt so einiges am Hut. Als ich genug Taschengeld gespart hatte, kaufte ich mir ein gebrauchtes Rad. Daran hatte ich nicht viel Freude, denn es gab dauernd Reparaturen. Einmal hatte der Meister den Gesellen und mich mit einer Karre voll Zement zu seinem Haus in der Fruchtallee geschickt. Mein Altgeselle konnte auch Wände verputzen und ich lernte es von ihm. Wir hatten dort aber auch einiges im Garten zu tun, und dabei entdeckte ich unter der Veranda, ein altes, rostiges Opelrad. Ich fragte den Eigentümer, ob ich es haben dürfte. Nach einer zustimmenden Antwort zog ich glücklich damit nach Hause. Nach einiger Zeit hatte ich es auf Vordermann gebracht. Jetzt konnte ich zur Arbeit radeln, das war doch eine große Erleichterung.

      An einem Sonntagmittag kam ich auf den Gedanken, mit dem Rad nach Kiel zu fahren, um dort das Meer zu sehen. Spät kam ich da an, musste aber gleich den Heimweg wieder antreten, damit ich wenigstens bis Mitternacht wieder zu Hause sein würde. Als ich Quickborn erreicht hatte, ging nichts mehr, mein Hintern hatte Hornhaut, nun mussten mal die Füße dran glauben. Kaputt und zerschunden erreichte ich mein Ziel und bin halb tot ins Bett gefallen. Meine Eltern haben nur den Kopf geschüttelt:


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