Virtuelle Ethik. Dirk Schumacher
Ich kann ihn spüren und riechen, er hat Charakter in seinen Geräuschen, wenn er läuft. Und der Motor braucht Zuspruch. Er hat auch etwas persönliches an sich. Aber eine Software, auch wenn ich auf sie angewiesen bin und wenn ich die Dame von der Hotline kenne, bleibt unpersönlicher. Ich kann sie nicht greifen und sehe nur ihre Auswirkungen. Im Computer passiert etwas, ich habe etwas gelernt und gesehen, ich bewege mich darin, aber es ist unpersönlich und drückt sich nur als Funktion gegenüber meiner Welt und meiner Person aus. Ich bewege mich plötzlich in einer Welt, die nicht meiner wirklichen Lebenswelt entspricht. Frankensteins Monster wird noch wie eine Maschine aus ehemals lebendigen „Alt“teilen gebaut. Der Maschinenmensch Maria aus Metropolis hat schon mehr Seele, sie wird aus einer Maschine und dem Kontrapunkt der in der Unterwelt zu funktionierenden Arbeitern gebaut. Sie ist Mensch, Frau und Maschine. In „Der Matrix“ wird die Abhängigkeit von der in der Technik versteckten Kultur so weit offen gelegt, dass zwischen Realität und Maschinenwelt nur noch die Entscheidung zwischen zwei farbigen Pillen den Unterschied macht. Ich denke die Leser oder Zuschauer haben sehr genau den Sinn dieser Bilder verstanden, denn sie sind es ja, die den unsichtbaren Einfluss der Technik jeden Tag spüren. Und nicht umsonst sind die darin enthaltenen Szenen blutig. Sie finden Entsprechung bei den Erfahrungen der Menschen mit der Technik. Die Technik greift in unser Leben ein. Für das Individuum wird Technik als brutal empfunden, als gewalttätiger Akt, der es im Innern verändert. Und das durch eine unpersönlichen Maschine, in einer Welt, die man nur lückenhaft versteht.
Das ist das Unheimliche der Technik, nicht dass sie funktioniert, sondern dass sie uns zwingt über das Nichtfunktionieren hinweg zu sehen. Wir müssen den Widerspruch in der Technik verstehen lernen, der zu den Konflikten führt und unsere Sichtweise darauf ändern. Die Ethik des Informationszeitalters ist virtuell, weil es immer schwieriger wird, den Menschen zu finden, der mir den technische Eindruck vermittelt hat. Das Funktionale wird zum Unpersönlichen in der Technik. Und in einer Ethik, der es darum geht, gemeinsam unter Menschen Handlungen zu begründen, wird es schwierig überhaupt einen Partner für die Unterhaltung zu finden. Deswegen wird die Technik als ein Gegenüber empfunden. Der Mensch kann nicht mit der Technik reden, obwohl er doch eigentlich die Technik begründet hat. So wird die Technik auch als etwas Fremdes, Anderes empfunden. Etwas mit dem man in ein Wettrennen treten muss. Die Aufgabe einer virtuellen Ethik ist es eine Diskussionsgrundlage zu finden, die es ermöglicht Handlungsleitlinien zu eröffnen, ohne die Technik zu verteufeln oder Technik als etwas anderes, nicht menschliches zu sehen. Ist die Technik doch menschliches Kulturgut und in jedem Fall in eine Ethik zu integrieren. Das Verstehen einer virtuellen Ethik gelingt nur, wenn wir verstehen können, wie Technik auf dem Menschlichen aufbaut. Und wie die Technik den Menschen beeinflusst und formt.
Das neue in der Technik ist das Virtuelle. Was ist das? Das Virtuelle wird in einfachen Techniken kaum sichtbar, nur in Medien, die offensichtlich Kultur übertragen und gleichzeitig auch Artefakte der Technik sind. Dort ist es zuerst spürbar. Aber in der Computertechnik, die sehr schnell, bildhaft und akustisch uns gegenüber reagieren kann, ist es offensichtlich. Wir fühlen uns dem Virtuellen lustvoll ausgeliefert, weil es eine visuelle und akustische Demonstration von Macht und Schönheit ist. Aus diesem Grund heraus ist virtuelle Ethik auch eine Ethik des Informationszeitalters und ihre Hauptaufgabe sehe ich darin Konflikte, die durch die Informationstechnologie begründet werden, transparent zu machen und dort Handlungsoptionen aufzuzeigen. Diese Sichtweise vertrete ich auch, weil ich glaube, dass der jetzige Stand der Informationstechnologie nur ein ganz geringer Anfang ist, von dem, was in der Zukunft unsere Kulturen global noch verändern wird. Es geht um die Frage, wie sollen wir in der Zukunft miteinander und mit der Technik umgehen?
Die Diskussion über den Zusammenhang von Mensch und Technik findet nicht nur in ethischen Dingen statt, sondern bezieht immer den Aspekt des kulturellen Einflusses, von Dörfern, Völkern, Nationen und heute der globalen Welt mit ein. Der Diskurs darüber kann nur ein Diskurs über die Ethik des Virtuellen sein. Dem Diskurs geht es um die Handlungen von Menschen untereinander im machtvollen Handlungsverbund mit Maschinen auf globale Weise. Sinn und Begründung moralischen Handelns sind nicht mehr möglich, ohne auf die Sprache der Technik zurückzugreifen. Technik als Kulturform begründet unser modernes Handeln und verbirgt sich in jeder Erklärung. Darum spreche ich von moderner Ethik als virtueller Ethik. Nicht moralische Regeln, Selbsterkenntnis oder logische Handlungszwecke begründen unser Tun, sondern die Verbundenheit des individuellen, verletzbaren und bewusst denkenden Menschen mit einer globalen alles vernetzenden Kultur des funktionalen Denkens. Virtuelle Ethik funktioniert nur über den globalen Diskurs.
Mein Versuch in diesem Essay ist das Aufzeigen der verschiedenen Ebenen auf denen Handlungen stattfinden und Konflikte entstehen können. Es geht darum Verständnis zu fördern, an welchen Stellen Sinn entsteht und wo Handlungen moralisch begründet werden können. Was bedeutet Moral heute noch für uns? Auf den ersten Blick erscheint unsere Welt als kulturell immer mehr ausdifferenzierend und nicht mehr in logischen Zusammenhang zu stehen. Die moderne technische Welt hat so viele Aspekte, dass es unmöglich erscheint, in einer Moral nur davon einen Teil zu integrieren. Einzelbestrebungen gibt es genügend, moralische Grundsätze zu begründen. Doch wer die sprunghaften technischen Fortschritte und die unüberschaubare Globalisierung anschaut, hat starke Zweifel ob Einzelbegründungen noch möglich oder gar erlaubt sind. Es sind zu viele. Sie begründen eher die Zweifel an einem einheitlichen Moralbegriff. Es steht die Frage im Raum, ob sich nicht jeder einer privaten Moral bemächtigen sollte. Einen individuellen Sinn, über Konsum und sinnliche Wahrnehmung, der den moralischen Bestrebungen anderer aus dem Weg geht. Mit einem Wort: postmoderne persönliche Ethik, die in einer Konsumgesellschaft natürlich gerne gesehen ist. Heißt es doch, lustvoll sich selbst zu geben – und nur noch zu konsumieren. Das ist unsere moderne Moral der Industriegesellschaft.
Ist die Ethik darin aber wirklich persönlich? Oder steht sie doch in einem globalen vernetzten Zusammenhang und entsteht aus vielen Einzelmeinungen? Die Kultur der Technik ist ein globaler Zusammenhang. Und einer Ethik, die sich mit der Technik beschäftigt, muss es zugesagt werden können, dass sie globale Urteile abgeben darf. Es geht darum einen Konsens oder einen logischen Zusammenhang über alle Meinungen zu finden. Aus diesem Grunde heraus stelle ich mir jetzt aus Selbstkritik einige Fragen am Anfang.:
Was erwarte ich persönlich von der Antwort nach einer Ethik und ist das vor allen anderen zu verantworten?
Kann die Antwort aus einem kulturellen Zusammenhang gerissen werden und gleichsam als Ersatzstück in eine fremde Kultur hineinversetzt werden, ohne ihren Sinn zu verlieren?
Bleibt die Antwort auch global gültig?
Ist virtuelle Ethik global pragmatisch einsetzbar?
Ich bin sehr gespannt, wie diese Antworten ausfallen werden.
Meiner Meinung nach ist Ethik heute nur möglich, wenn verstanden wird, was Technik bedeutet. Wie Technik in der Kultur eingebettet ist, wie das Individuum zu bewussten Entscheidungen kommt und was es bedeutet, wenn die Technik als globales Phänomen Einzel, Gruppen, organisatorische und nationale gesellschaftliche Entscheidungen prägt und beeinflusst. In Virtueller Ethik müssen wir uns davon verabschieden, Ethik aufgrund von moralischen Entscheidungen einzelner zu denken. Mag es Helden, Staatsführer oder weise Männer sein. Alle sind verdächtig. Wir müssen uns daran gewöhnen global zu denken und uns von uns selbst zu emanzipieren, vom Einzelnen. Ohne gleich unser Heil in Gott, Logik, Schmerz, Schönheit oder Glück zu suchen. Auch das ist verdächtig. Es geht um den Bestand dessen, was ist. Wir Menschen in einer funktional denkenden technischen durchwirkten globalen Welt, abgehoben vom einzelnen Bewusstsein.
Es ist nicht einfach, ein Urteil zu begründen, wenn der Mensch sich im virtuellen der technischen Welt auflöst. Hier beginnt die Schwierigkeit erst, denn wie kann ich an dieser Stelle überhaupt noch meine Meinung begründen? Und worin löse ich mich auf? Diese Frage gilt es zu beantworten. Virtuell bedeutet, dass ich mich mit meiner Meinung auflöse und mit der Technik verbinde. Wo soll sich darin noch ein begründbares Urteil bilden können? Das Essay ist die Antwort darauf.
Als Grundlage einer virtuellen Ethik möchte ich im folgenden Kapitel zuerst darauf eingehen, wie Bewusstsein entsteht, was es bedeutet als Mensch in einem sozialer Verbund zu leben und wieso die Technik