Virtuelle Ethik. Dirk Schumacher

Virtuelle Ethik - Dirk Schumacher


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hier ist der Zusammenhang zwischen Kultur und Individuum funktional gedacht. Mensch und Kultur können funktionieren – oder nicht. Im Gegensatz zu Gergen ist Freud auf der Bewusstseinsebene differenzierter. Was bei Gergen diffus verborgen ist, die Entstehung des Bewusstseins, welches in der Kultur konstruierendes Element ist, enthält bei Freud symbolische Elemente, die in Beziehung stehen. Das Ich steht zwischen Es und Über-Ich und versucht auf deren Forderungen einzugehen. Libido, Verbote, Werte und Bedürfnisse wirken auf es ein.

      Ich, Es und Über-Ich sind Versuche der Bestimmungen einer nicht ganz verstandenen Funktion im Menschen. Und es scheint, dass sie ähnlich wie in der Quantenphysik Symbole für etwas sind, wo wir sehen, dass was passiert. Aber im Grunde wissen wir nicht, was sich da im Inneren wirklich befindet. Wir nähern uns der Lösung durch Symbole mit passenden Assoziationen an. Ich, Es und Über-Ich sind ähnliche Bezeichnungen wie Spin, Farbladung und Masse. Es sind statistische Aufkleber auf etwas, wo wir nicht mehr hinschauen können. Und genauso wie bei den Quantenzuständen, wenn wir sie beobachten, ändert sich etwas bei den Menschen, wenn wir mit ihnen reden. Das ist das Gesetz von Beobachtung und Wechselwirkung. Genauso in der Physik wie im sozialen Raum. Wir beobachten ein einzelnes Individuum, wie ein einzelnes Teilchen und stellen uns vor, dass wir, wie bei einer Billardkugel nur etwas anstoßen müssen und das Teilchen strebt in eine Richtung. Der Mensch verhält sich für uns kausal. Das ist das funktionale Denken, das uns die Technik erst möglich gemacht. Und das bestimmt auch unser Denken in Sozialtechniken. Mit Regeln wie Kausalität, Linearität und mathematischen Beziehungen. Doch, wenn man genauer hinschaut, gibt es weder das einzelne Teilchen noch das menschliche Individuum alleine. Das ist nur eine symbolische Vorstellung um die Singularität handhabbar zu machen. Die Vorstellung dessen, was wir uns denken und dem was sich um uns herum abspielt, sind nicht dasselbe. Sie zeigen nur, das eine Wirkung von mir erklärbar zu einer Reaktion von Außen führt. Die Erklärung bezieht sich auf das funktionale Denkmodell, nicht auf die Wirklichkeit. Gibt es wirklich ein Ich irgendwo in einem Menschen? Oder ist es etwas, was im Sprechen eines einzelnen Bewusstseins in der Gemeinschaft erst stattfindet und gleich wieder verfällt? Das was wir sehen ist ein Denkmodell, was sich andere in der Geschichte angeeignet haben. Was sich in der Wissenschaft, wie den Therapiemodellen der Psychologie einen Platz genommen hat. Was in den Köpfen derjenigen, die behandelt, wie erforscht werden, festgesetzt hat. In der Therapie einigt der Kranke sich mit dem Arzt in einem Diskurs darauf, was es sich mit dem Ich des Patienten auf sich hat. Das funktioniert, weil in dem Modell der Psychotherapie, über das Arzt – Patienten Verhältnis in den gehaltenen Stunden, Interventionen in den Patienten integriert werden. Das Modell wird zu einem gemeinsamen Modell von Arzt und Patient. Die Krankheit wird sozusagen konstruiert und kann damit repariert werden. Nur in dem der Patient das zulässt und in sich Funktionen erkennt, kann er auf diese eingehen und sie verändern. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Psychotechnik. Atomteilchen sind leider nicht in der Lage Denkmodelle zu integrieren. Bei Experimenten mit diesen sind wir daher darauf angewiesen durch Versuch und Irrtum deren Funktionsweise zu verstehen. Und der Welle – Teilchen Dualismus zeigt nichts anderes, als die Unmöglichkeit des funktionellen technischen Denkens sich von der Kausalität zu lösen. Es müssen funktionelle Ersatzprogramme gedacht werden, um doch zu einer zutreffenden Beschreibung zu kommen. Da berühren wir, wie in der menschlichen Psyche, die Grenzbereiche des logischen Denkens. Es wird immer schwieriger die Grenzen zu überschreiten, weil unser funktional, logisches Denken, das die Menschheit geschichtlich entwickelt hat, strukturelle Einschränkungen hat.

      Ich halte die Art der Sichtweise des Bewusstseins bei Freud für sehr wichtig, weil es Problempunkte anderer Sichtweisen vermeidet. Es setzt bei den Gefühlen und Symbolen der Individuen an und nicht bei den Vorstellungen und Konstruktionen von Kultur. Natürlich ergibt sich daraus auch eine symbolhafte Sichtweise von Kultur. Aber keine Konstruktion, der die Individuen unterworfen sind. Sie sind noch frei! Der wichtigste Punkt bei der Betrachtung von Kulturen ist der Gesichtspunkt der Freiheit des Einzelnen in einer Konstruktion von Kultur, die mehr ermöglicht als ein einzelner mit anderen zusammen vermag. Ansonsten ist diese Vorstellung von der Seite des Individuums oder des Sozialen her unglaubwürdig.

      Doch schauen wir uns noch eine weitere funktionale Konstruktion von Bewusstsein an.

      Gerhard Roth geht noch einen Schritt weiter. Bewusstsein wird von ihm in seinem Buch „Fühlen, Denken, Handeln – Wie das Gehirn unser Verhalten steuert“. (4) im assoziativen Cortex ausgemacht. Die cortikale Aktivität im assoziativen Cortex erzeugt aufgrund der Einwirkungen der motorischen, emotionalen und sensorischen Zentren in einer Rückkopplungsschleife Bewusstsein über die anstehenden motorischen, emotionalen und sensorischen Zustände. Bewusstsein ist sozusagen vorweggenommenes Handeln und deren integrative Auswirkungen. Die Besonderheit des assoziativen Cortex ist seine Verknüpfungsdichte als assoziativer Speicher. Das heißt, hier laufen die für uns unbewussten sensorischen und emotionalen Vorgänge unseres Gehirns zusammen und werden zusammengefügt. Bei Roth geschieht dies innerhalb eines zeitlichen Verlaufs. Das bewusste vorweggenommene Handeln braucht seine Zeit in Sekunden, damit es diese Vorstellung von Bewusstsein erschafft und daraus aktiv reagieren kann.

      Das Unbewusstes besteht für Roth aus Vorgängen außerhalb der assoziativen Großhirnrinde, aus vorbewussten Inhalten, aus unterschwelligen Wahrnehmungen, aus Wahrnehmungen außerhalb unserer Aufmerksamkeit, aus Prozessen der Gehirnentwicklung bei Säuglingen, aus dem Prozessgedächtnis, aus Unbewusstem und aus Verdrängtem. Motivationen im Bewusstsein entstehen durch Rückkopplungen des emotionalen Systems auf das Bewusstsein. Ein sehr kompliziertes Geflecht aus einer Vielzahl von Strukturen im limbischen System reagiert auf Eingaben des vegetativen Nervensystems und der sensorischen und motorischen Zentren. Der Hypothalamus, die zentrale Amygdala und das nachgeschaltete zentrale Höhlengrau reagieren sehr spezifisch auf Einflüsse und wirken wieder auf den zentralen Cortex zurück. Es entstehen nicht nur Reaktionen wie vegetative Vorgänge, Stress, Affekte, Wachsamkeit, Schreck und Angst, sondern auch starke Gefühle, die unser Bewusstsein in bestimmte Richtungen lenken. Wie z.B. im Sexualverhalten, Aggression, Verteidigung oder Nahrungsaufnahme.

      Zur Unterscheidung von Bewusstsein und Unbewussten trennt Roth die Gehirnaktivitäten einerseits auf in unabhängige, nicht gewollte, nicht aktiv bemerkte, schnelle, einseitige, fehlerfreie, schwer veränderbare und nicht erklärbare Prozesse auf. Und in kontrollierte, aufmerksam gedachte, bemerkte, langsame, mühevolle, schwer störbare, schnell änderbare und leicht äusserbare Tätigkeiten. Allgemein ist der bewusste Denkprozess vielfältiger, komplizierter und mit tieferer Bedeutung belegt. Es ist eine Art der Informationsverarbeitung, über die wir sprechen können.

      Es ist schon fantastisch. Was bei Freud noch symbolischen Charakter hatte und auf vorsichtige Beobachtung zurückzuführen war, ist nun in physikalischen Gehirnregionen plastisch vorzustellen. Roth vermeidet im neurophysiologischem Teil seines Buches Begriffe wie Ich, Es, Über-Ich und Unterbewusstes. Für ihn geht es um funktionales Prozesse um Bewusstes oder Unbewusstes, um automatisierte oder kontrollierte Prozesse. Auch wenn vieles davon noch nicht ausgereift ist und vor allem noch nicht so genau differenziert werden kann, dass Erkenntnisse daraus explizit praktisch verwendet werden können. So wird doch klar, dass es ein Ansatz ist, der unser kausales, funktionales Denken genauso beflügeln kann, wie die Freud'sche Theorie. Freuds Ergebnisse im übrigen werden praktisch in der Wissenschaft schon sehr häufig verwendet und haben auf Kultur und Denken allgemein sehr starken Einfluss genommen. Zum Beispiel auch auf die Theorie von Roth. Was wundert ist nicht nur, dass mit den Symbolen der Psychoanalyse auf funktionelle neurologische Suche gegangen werden kann, sondern dass diese Symbole auch inhärent dafür herhalten können, Prozesse im Gehirn zu erklären. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Neurophysiologie sind noch nicht genug fortgeschritten, um daraus tragfähige Ideengebäude zu bauen. Es reicht nicht für eine neue psychologische Behandlungsmethode aufgrund neurophysiologischer Erkenntnisse. Es reicht nicht für die Erstellung künstlicher Intelligenzen in Informationsstrukturen. Es reicht nicht für philosophische Erschütterungen am Begriff des Bewusstseins. Trotzdem wird gerade in diesem Bereich sehr viel geforscht. Teils aus Neugier, teils aus direkten finanziellen Interessen heraus, da Einzelergebnisse durchaus schon in der Medizin, Wahrnehmungstheorie, Militärwissenschaft und Informationsverarbeitung mit Nutzen eingebracht werden können. Es ist ein spannendes Gebiet auf dem ich interessante Techniken in den nächsten Jahren erwarten kann. Es ist


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