Godcula. Hans Jürgen Kugler
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Hans Jürgen Kugler
Godcula
Die Harmonie der Insekten
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Inhaltsverzeichnis
3 Kurt Kurtz sucht eine Schere
4 Bandaraneike sucht Erleuchtung
5 Konferenzschaltung für Fortgeschrittene
11 Bandaraneike spinnt immer noch
12 Independente Selbstbezügliche Kollektiv-Textdatei <INSEKT>
16 Bandaraneike spinnt schon wieder
17 Commander Chutney will nach oben
18 Von der Verwirrung der Gelehrten
20 War’s das? – Das war’s (fast)
Myrmekologische Einleitung
In einem Insektenstaat wie dem der Ameisen herrscht absolute Harmonie. Nichts ist dem Zufall überlassen. Ein gewaltiges Kollektiv aus Millionen von Einzelinsekten lebt, gedeiht und entwickelt sich unter dem Schutz und in der Geborgenheit einer in höchstem Maße aufeinander abgestimmten Gemeinschaft hin zu einem Zustand absoluter Ordnung und Perfektion. Millionen von Einzelindividuen, das jedes für sich genommen vollkommen gleich ist, fügen sich, fast scheint es: willenlos, in eine Ordnung höherer Stufe, nach einem übergeordneten Plan, vergleichbar einem physikalischen Naturgesetz. Denn alles, was geschieht, verläuft nach den Regeln eines im Grunde einfachen, aber ausgeklügelten allumfassenden Planes. Dieses Wunder an vollkommener Ordnung wird durch absolute Kontrolle erreicht. Eine unangreifbare, nicht zur Debatte stehende herrschende zentrale Gewalt steuert mit Hilfe eines ausgeklügelten Systems von hochwirksamen chemischen Substanzen, den sogenannten Pheromonen, all die komplizierten vielfältigen Interaktionen, die nötig sind, um ein Kollektiv von solch gewaltigen Ausmaßen am Funktionieren zu erhalten. Das Ausmaß, das diese Pheromone über das Verhalten einer einzelnen Ameise ausüben, ist unumschränkt. Alle Individuen sind von dieser Zentralgewalt abhängig. Umgekehrt ist das Wohl und Wehe dieser zentralen Gewalt darauf angewiesen, dass jedes einzelne Individuum des Kollektivs seine jeweilige Aufgabe in perfekter Weise ausführt. Letztlich sind alle von allen abhängig. Das System funktioniert, weil alle Fäden in einem Punkt zusammenlaufen; weil alle Fäden von einem Punkte ausgehen. Dieser eine zentrale Punkt ist Ausgangs- und Endpunkt eines überindividuellen Individuums – des Kollektivs. Er ist Anfang und Ende, Nullpunkt und Fülle, Ursprung und Ziel in einem, das Eine, das Alle ist. Origo ergo sum, wie schon die Klassiker wussten (…).
(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, 112. Auflage, Band XIII, II. Buch, Zweiter Teil, Erste Abteilung, 3. Abschnitt, Kapitel LXVII, 3.2.1.0 Prolegomena zur Kleinen Einführung in die Harmonie der Insekten, Seite 1123 ff.)
1 Die Verwandlung
Ich habe mich verwandelt. Ganz gewaltig sogar. (Gewaltig ist das richtige Wort.) Wenigstens das weiß ich. Denn am meisten scheint sich mein Erinnerungsvermögen geändert zu haben. Alles, was ich jetzt noch weiß, ist, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war, und dass es auch nie mehr so sein wird. Ich kann es nicht erklären, ich weiß nur, dass ich mit einem Mal nicht mehr derselbe war, der ich noch bis vor kurzem gewesen bin. Und doch bin ich derselbe geblieben. Aber ich habe mich verändert.
Die Verwandlung nahm draußen, außerhalb der Röhre, ihren Anfang. Wie an jedem Morgen bin ich auch an diesem Tag schon in aller Frühe aus dem Bau herausgekrochen, ganz wie sonst auch, der gewohnte Gang aus dem Dunkel ins Licht, in die unbekannte, gefährliche Welt außerhalb des freundlichen, warmen Kollektivs.
Zunächst schien alles so wie immer zu sein. Der kurze Schock vor dem grellen Licht, die vielen verwirrenden Düfte, die unsere Straßen überlagerten; die sich drohend abzeichnende Phalanx des Waldes und das Spiel der Schatten, nachdem sich meine Augen an die überwältigende grelle Fülle angepasst hatten; der kühle Wind auch, der über meinen Körper strich.
Weil ich durstig war eilte ich noch schnell einen Grashalm hinauf, um mich an dem verlockenden, in der Sonne silbern glitzernden Wassertropfen zu erfrischen, der von der Spitze herabhing. Mit den vorderen Gliedmaßen packte ich in geübtem Griff diese unter meinen Greifklauen immer so rasch vor sich hinwirbelnde glänzende Kugel. Es ist nämlich jedes Mal aufs neue eine Herausforderung, diesem so schwer fassbaren, kaum zu bändigenden Element habhaft zu werden. Schließlich bekam ich sie aber dennoch zu fassen, eine pralle, in der Frühsonne wie ein Diamant glitzernde Wasserperle, und stach mit meinen Mandibeln in die gleißende Flüssigkeit, um davon zu trinken. Normalerweise ist das eine ganz gewöhnliche Angelegenheit; die lediglich zur Folge hatte, dass meine durch die Austrocknung in der Nacht spröde gewordenen Membranen sich wieder etwas dehnen konnten und geschmeidiger wurden. Die Flüssigkeit kühlte mir etwas den durch die Anstrengung hitzig gewordenen Körper – ein Vorgang, der für mich so selbstverständlich war, dass ich ihn kaum jemals bewusst registriert hatte. Aber an diesem Morgen war alles anders. Das Wasser rann mir an diesem Tag nicht wie sonst kühl und erfrischend den Schlund hinab, sondern raste mir wie flüssiges Feuer direkt in die Eingeweide hinein, ich hatte dabei ein Gefühl, als ob ein glühendes, wildes Tier sich in meinen Körper hineinfräße. Es ist wahr: Das Wasser dieses einen Tropfens erfrischte und belebte mich auf eine Weise, wie ich es noch