Godcula. Hans Jürgen Kugler
in neue Territorien vorzustoßen, da er im Moment vollauf damit beschäftigt war, in den unergründlichen Tiefen seines Schreibtischcontainers nach einem Klebestift zu suchen, den er, da war er sich ganz sicher, erst vor einem Jahr dort irgendwo deponiert hatte und mithin im Augenblick seine ganze Aufmerksamkeit der anspruchsvollen und äußerst diffizilen Aufgabe gewidmet hatte, mit den am linken Handrücken gespreizten Fingern den stetig nachrutschenden Berg angefangener Merkdemos, nicht verbuchter Quittungsbelege, leerer Farbpatronenverpackungen eines längst ausrangierten Tintenstrahldruckers, zerknüllter Coladosen und je nach Belegung wahlweise vertrockneter oder verschimmelter Sandwichüberreste einigermaßen in Schach zu halten, während sich die Finger der rechten Hand einem Ölbohrer gleich in immer tiefere geologische Schichten aus Papier, Plastik und einer Unzahl von Verbundstoffen wühlten, bis sie sich endlich auf dem Grunde seines Schreibtischcontainers in den verborgenen Sedimenten einer ausgeklügelten Ablagetechnik von etwa zwei Jahrzehnten Dauer, vorwärtstasten konnten, um diesen nun so dringend gebrauchten Klebestift endlich ans Tageslicht zu befördern.
In einem für ihn ungewöhnlichen Temperamentsausbruch stieß er einen triumphierenden Schrei aus, als er an seinen Fingerspitzen endlich die klebstoffverkrustete Spitze des Klebestiftes spürte, stieß dann die rechte Hand noch etwas tiefer in das geheimnisvolle Dunkel und zog in einer entschlossenen Bewegung seine Beute hervor.
Der plötzliche Ruck, mit dem Kurt Kurtz den Klebestift aus seinem Schreibtischcontainer gezogen hatte brachte jedoch das in jahrelanger Arbeit sorgfältig austarierte Gleichgewicht dieses Materialkompendiums auf seinem Schreibtisch in beträchtliche Schwingungen. Kurz, der ganze Haufen kam ins Rutschen und begrub das gerade eben noch scheu sich regende Leben unwiderruflich unter sich.
Und so wurde auf diese Weise wieder einmal eine hoffnungsvolle Spezies von Menschenhand ausgelöscht und folgte damit dem unbeirrbaren und grausamen Lauf der Evolution. Viele Prototypen, die untergehen, bevor sie noch recht die Chance gehabt hätten, sich auszubreiten und weiterzuentwickeln.
Aber auch Kurt Kurtz war heftig in seinen Überlebenskampf verwickelt. Er wusste ganz genau, wenn er nicht bald eine Idee hätte, die er seinem Chef Fred als absoluten Knaller des Jahres würde verkaufen können, würde sehr bald eben dieser Fred – Kumpel hin, Kumpel her – über ihn herfallen und ihm womöglich seine ausgedehnten Rauchpausen untersagen wollen. Und dann käme garantiert noch Dr. Pandemius hinzu, der wiederum zuerst und zudem über Fred herfallen würde, was diesen mit Sicherheit dazu bewegen würde, … Und weil die Kacke dann eh schon so schön am Dampfen wäre, käme dann mit Sicherheit noch der Vorstand angelaufen, um seine – gelinde gesagt – Irritationen über das laufende Programm zu artikulieren; denn wenn Schlachttag ist, läuft die Meute stets zusammen, um ihn, das so ziemlich letzte Glied in der Kette, zu zerfleischen. Zu guter Letzt würde ihm seine Frau noch eine Szene machen, die Kinder hätten wieder einen Grund, ihren Vater zu verachten, und selbst der Wellensittich sähe sich noch veranlasst, seinen Unmut über seine mangelnde Fürsorge durch nervenzerreißendes Zetern kundzutun.
Also musste dringend eine Idee her! Er blickte auf seine Hände. Was eigentlich wollte er mit diesem Klebestift anfangen? Ach ja, die Präsentationsunterlagen von 94! Die waren ja noch ganz brauchbar. Schade, dass er diese Unterlagen nicht damals schon komplett in den Computer geladen hatte, dann hätte er jetzt nur noch die halbe Arbeit, könnte hier einen Text ersetzen, dort eine Grafik anpassen … Es würde verdammt eng werden. Und ausgerechnet heute hatte „Galle“ natürlich Urlaub genommen. Als ob er es geahnt hätte! Immer, wenn es Arbeit gab, war der Herr Galler entweder in Urlaub, hatte etwas Unaufschiebbares zu erledigen oder erkrankte urplötzlich an irgendeiner ebenso merkwürdigen wie hartnäckigen Virusgrippe oder sonst einem Zipperlein. Gut meinende Kollegen hielten ihn für einen Hypochonder, aber das war er ganz gewiss nicht. Der Begriff der Hypochondrie wäre mehr als geschmeichelt, wollte man diesen Terminus als hinreichende Erklärung für Erhart Gallers häufige Fehlzeiten wegen Krankheit anwenden. Ein Hypochonder fühlt sich ja wirklich krank, auch wenn er kerngesund ist. Und Kurt wusste ziemlich genau, was man sich unter einem Hypochonder vorzustellen hatte. Sein Kollege Walter Witzel beispielsweise war der geradezu klassische Prototyp des eingebildeten Kranken. „Eingebildet“ durchaus im doppelten Sinn des Wortes, denn neben seiner Hypochondrie zeichnete Walter auch ein ungebremstes und mitunter mehr als peinliches Geltungsbedürfnis aus. Er musste im Laufe seines Lebens nun wirklich schon jede denkbare und auch undenkbare Erkrankung, jedes im Pschyrembel oder sonst wo dokumentierte Gebrechen am eigenen Leibe erlebt haben. Walter Witzels Neigung, bei jedem Eindruck schinden zu wollen, der so unvorsichtig gewesen war, in seine Nähe zu kommen, ging einmal sogar so weit – er musste immer noch darüber schmunzeln –, dass er einem Kollegen gegenüber erwiderte, der ihm von einer diagnostizierten Hirnhautentzündung eines Freundes erzählt hatte, Hirnhautentzündung, das sei nun wirklich etwas ganz Furchtbares: „Entweder man stirbt daran, oder man wird blöd davon. – Hab ich auch schon gehabt!“
Dem Kollegen, dem er dieses Geständnis in seiner erfrischend naiven Art abgelegt hatte, fiel fast die frisch aufgebrühte Kaffeetasse aus der Hand, dann brach er in brüllendes Gelächter aus, was Walter nur noch mit einem unverständlichen Kopfschütteln quittieren konnte. Wahrscheinlich hat er bis heute nicht gemerkt, welche tiefe Einsicht er da gerade in sein tiefstes Innerstes gewährt hatte. Diese unschuldige Art von Ignoranz bringt nur der wahre Hypochonder auf. „Galle“ aber, nein, „Galle“ war ganz gewiss kein Hypochonder. Der ist kerngesund wie immer und feiert ganz bewusst – und zwar gerade nicht schuldbewusst – krank, besonders an solchen Tagen, wenn es mal wieder hoch herzugehen droht im Betrieb.
Wenn er es recht betrachtete, so fiel ihm jetzt auf, so ist in all den Jahren eigentlich nie eine Woche vergangen, in der Erhart Galler nicht mindestens einen Tag gefehlt hatte, sei es, weil er sich mal wieder kurzfristig einen Tag Urlaub genommen hatte, oder sei es, weil er – wesentlich häufiger natürlich! – wegen irgendeiner obskuren Erkrankung unpässlich geworden war. Was musste der arme Mensch leiden! Alle Arten von Infektionen hatten ihn schon heimgesucht; die Wirbelsäule, das Kreuz, der Magen, Rheuma, Asthma, Migräne … die Liste der Gebrechen, unter der Kollege Galler zu leiden beliebte, ließe sich ins Unendliche fortsetzen.
Sein Blick fiel auf die Uhr. „Verdammt, fast elf.“ Jetzt musste er sich aber wirklich beeilen, wenn er Fred bis Mittag noch irgend etwas Handfestes liefern wollte. Er ging an das alte Wandregal in der Ecke, wühlte eine Weile in den verstaubten Restposten und Ansichtsexemplaren, die sich dort seit Jahren angesammelt hatten, bis er „Meyer‘s Illustriertes Lexikon der Tiere“ gefunden hatte. Er hatte doch damals schon geahnt, dass er dieses Buch irgendwann einmal noch würde gebrauchen können. Wenn es nach Fred gegangen wäre, hätten sie diese alten Staubfänger längst zum Altpapier gegeben. Aber er, Kurt Kurtz, war dessen wiederholten Aufforderungen in bewährter Verschleppungstaktik stets mit einem zackigen „Klar, Chef, wird morgen gleich als Erstes erledigt“ begegnet und hatte die Bücher, Zeitschriften und Broschüren dort liegen gelassen, wo sie waren. Man konnte ja nie wissen, wozu man sie noch gebrauchen könnte. Dabei war Kurt Kurtz alles andere als ein belesener Büchernarr; ganz und gar nicht, bei Stephen King stieg er spätestens bei Seite 30 aus. „Wenn man den ganzen Tag auf den Bildschirm starrt, muss man abends ja nicht auch noch seine Nase in Bücher stecken. Ich mache es mir dann lieber vor dem Fernseher gemütlich“, pflegte er diesbezüglichen Fragen logisch nicht ganz zwingend zu entgegnen.
Aber ein Buch einfach wegzuwerfen, das käme ihm denn doch fast einem Sakrileg gleich. Also blieben die Bücher, dort, wo sie waren, mochte Fred ihn auch noch so oft dazu auffordern, sie endlich „endzulagern“, wie er das nannte. Er kannte Fred. Fred liebte es, Anweisungen zu geben, das bestätigte ihm stets seine Wichtigkeit. Ein Tag, ohne dass er eine Anordnung gegeben hätte musste für ihn sein, als ob er einen ganzen Tag lang nichts gegessen hätte. O ja, Befehle sind das Brot des Vorgesetzten. Ob die Anweisungen, die Fred damit täglich auch in so großer Zahl erteilte, dann auch tatsächlich ausgeführt wurden, das interessierte ihn nicht. Er hatte seine Direktiven ja gegeben. Und das musste genügen.
Er blätterte eine Weile in dem dickleibigen Wälzer herum, bis er auf das Foto einer Ameise stieß, das seinen Vorstellungen in etwa entsprach. Es handelte sich um die Makroaufnahme einer Waldameise, Formica rufa. Sie war direkt vom Boden aus aufgenommen worden, so dass der Betrachter dem maskenhaft gepanzerten Kopf mit den großen, wie die Geschützkanzeln eines fremdartigen