Godcula. Hans Jürgen Kugler
Hörst du? – Ich höre das gar nicht, du existierst gar nicht! Keine Stimme! Nirgends! Nicht einmal in meiner Phantasie.“
„Wie du meinst.“ Die Stimme verstummte.
Er hatte wohl doch zu viel gearbeitet die letzte Zeit, ganz gewiss. Der Erfolgsdruck, die dringenden Termine, diese ungeheure Verantwortung! Diese Belastung! Wie sehr ihn das alles belastete! Keiner würde das je verstehen. Und jetzt begann er auch noch Stimmen zu hören. Davon durfte er keinem etwas erzählen. Die würden ihn ja für vollkommen verrückt erklären. Stimmen! Einfach so. Stimmen, mitten im Raum. Wie aus einem Radio. Er lauschte angestrengt in den Raum, aber da war nichts mehr. Er hörte nur das vertraute Summen seines Rechners und das Telefonklingeln aus dem Nebenraum, das Müller, Meier und Schmidt bestimmt wieder aus ihrem Büroschlaf geweckt hatte. Die Vorstellung erheiterte ihn so sehr, dass er fast hysterisch aufgelacht hätte. Aber nur fast. Man konnte ja nie sicher sein, ob die das da drüben nicht vielleicht hören würden.
Eine erschreckende Vorstellung ergriff von ihm Besitz. Wie, wenn diese papierdünnen Wände so hellhörig sind, dass die drei schon seit Jahr und Tag jedes einzelne Wort ohne Probleme mitverfolgen konnten, das er in seinem Büro je gesprochen hatte, jedes Telefonat mitbekamen, das er führte, jede – nicht auszudenken!
Ein eigenartiger Gedanke durchfuhr ihn: Wenn dem so wäre, dann hätten sie sicherlich auch diese Stimme hören müssen, wenn es denn eine gegeben hätte. Er horchte wieder angestrengt an die Wand. Nichts.
Genau! Wenn es wirklich eine Stimme gegeben haben sollte, dann hätten Müller, Meier und Schmidt die in ihrem Büro sicherlich auch hören können. Diese drei Schnarchzapfen hatten doch ohnehin nichts Besseres zu tun, als den ganzen Tag über die Ohren zu spitzen und aufzupassen, was in seinem Büro vor sich ging. Aber zugleich wurde ihm auch bewußt, dass er nicht einfach so zu ihnen rübergehen konnte, um sie zu fragen: „Sagt mal, ganz unter uns, habt ihr nicht vielleicht auch eben so eine sonore Baßstimme eben in meinem Büro gehört?“ Ganz ausgeschlossen. Selbst wenn sie diese Stimme wirklich gehört haben sollten, würden sie einen Teufel tun und ihm das auf die Nase binden, denn dann hätten sie sich ja selbst entlarvt und ihre Schnüffelei eingestehen müssen. So ging es also nicht. Und wenn es doch nur eine Halluzination gewesen war, hätten sie ohnehin nichts hören können, ob sie jetzt an seiner Wand lauschten oder nicht.
Genau! Es konnte wirklich nur eine Halluzination gewesen sein, es lohnte sich gar nicht, noch länger darüber nachzudenken.
Der Bildschirm vor ihm erlosch wieder, sein Computer hatte auf den Ruhezustand umgeschaltet, weil er seit zehn Minuten keine Eingaben registriert hatte.
„Herrgottnochmal, da sitze ich hier untätig rum und vergeude kostbare Zeit, wo doch der Chef auf dieses dämliche Exposé wartet“, fiel ihm plötzlich ein und griff wieder zum Telefon. Er hatte den Hörer gerade abgehoben als er einer Eingebung folgend plötzlich innehielt.
„Herrgottnochmal!“ rief er laut. Keine Antwort.
Gott sei Dank. Keine Stimmen. Er war erleichtert.
Aus purem Übermut wiederholte er noch einmal, laut und deutlich, jede Silbe einzeln betonend: „Herr! Gott! Noch! Mal!!“
„Was?“ Kurt.
„Wie?“ unwillkürlich zuckte er zusammen, „Du doch nicht, verdammt noch mal, was machst du überhaupt in meiner Leitung? Ich habe doch noch gar nicht gewählt gehabt.“
„Das weiß ich auch nicht. Wirklich nicht. Ich …“
„Wie lange bist du schon in der Leitung?“
„Ich? Überhaupt nicht lange. Ich habe eben …“
„Ist ja auch egal. Was macht das Exposé? Schon irgendwelche Ideen?“
„Äh, ja, das heißt nein, deshalb rufe ich ja gerade an. Weißt du, es liegt einfach nichts Neues an. Letztes Jahr hatten wir ja noch die Sache mit den interaktiven Robosekten, was ja ganz gut gelaufen war …“
„Hör mir bloß damit auf! Man konnte noch nicht mal über die Straße gehen, ohne von so einem Ding wild flackernd angepiepst zu werden. Und was soll das heißen, keine Ideen? Was machst du denn eigentlich den ganzen Tag hier?“
„Ja, es gibt im Moment eben einfach nichts … außer vielleicht diese Sache mit der Ameise, was ich dir vorhin schon …“
„Ich habe dir doch gesagt … diese Ameisen krabbeln dir ja schon im Hirn rum. – Aber vielleicht besser als gar nichts, also gut, dann versuch‘ es halt mal mit dieser Ameise, in Gottes Namen!“
Er legte auf und lauschte. Nein, keine dröhnende Stimme, die wie aus dem Nichts über ihn hergefallen wäre. War wohl doch alles nur Einbildung.
Eins musste man Kurt lassen, so einfältig wie er ist, so hartnäckig ist er auch. Kommt doch die ganze Zeit mit dieser nun wirklich seit mindestens fünfzig Jahren abgeschmackten Idee von einer Riesenameise. Godzilla und Fornicula in einem. Dass ich nicht lache! Andererseits – gerade die dämlichsten Ideen haben ja später den allergrößten Erfolg. Also warum nicht mal wieder eine riesige Ameise, die Hochhäuser wie Nüsse knackt und am Ende womöglich das Empire State Building hinaufkrabbelt, weil sich dort Claudia Schiffer hingeflüchtet hat. Oder in die U-Bahn-Schächte kriecht, um dort ihre Eier abzulegen.
Halt. Das ist gar nicht mal so schlecht. Ameisen legen doch ihre Eier unterirdisch ab? Das ist genau dieser Funke an Realitätsbezug, der einer wirren Geschichte Glaubwürdigkeit verleiht. Doch, da steckt noch einiges an Potential drin.
Er wählte noch einmal Kurts Apparat: „Und dass du mir ja schnell machst, bis nach dem Mittagessen brauche ich dringend die ersten brauchbaren Entwürfe. Also laß knacken.“
„Ja, Chef, ich bin schon dabei.“
Hatte er soeben „Ja, Chef!“ gesagt? Fred lächelte. Schau mal einer an, hat der alte Knabe also doch noch Respekt vor ihm. Das wollte er ihm aber auch geraten haben, nach allem, was er schon für ihn getan hatte.
Er drückte die Leerzeichentaste, um seinen Bildschirm wieder zum Leben zu erwecken. Mochte Kurt doch dieses dämliche Exposé erstellen, sein Job war es schließlich nur, den Mist zu verkaufen, den andere für ihn machen.
Er aktivierte wieder Dark Fader. „Mist!“ Er hatte ganz vergessen, dass er ja die goldenen Eier des Grausigen Greifen hatte fallen lassen, als Kurt so unvermutet in sein Büro gestürmt war. Jetzt konnte er wieder ganz von vorne anfangen, musste wieder zurück auf Ebene drei und sich erst wieder mühsam den Eingang zur Monsterhöhle freischießen. „So ist das nun mal in meinem Job“, dachte er, „da bemüht man sich in hingebungsvoller Aufopferung den ganzen Tag hindurch, um seinen vielfältigen und unglaublich verantwortungsvollen Aufgaben so gut es geht gerecht zu werden, und dann kommt so ein unfähiger Schwachkopf hereingeplatzt und macht mit einem Schlag die ganze Arbeit eines Tages zunichte.“ Er packte seinen Joystick und feuerte wie der Teufel aus allen Rohren auf die berittenen Schrorks, die seinen Mr. Jonessy in nicht enden wollenden Wellen angriffen.
3 Kurt Kurtz sucht eine Schere
(…) Der Tod wird die einzige individuelle Erfahrung sein, die sie jemals in ihrem Leben machen werden. Einzig der Tod wird es sein, der sie einst aus ihrem Kollektiv zu trennen vermag.
(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, a.a.O., Seite 1245)
Sub Assistance Deputy (SAD) Kurt Kurtz’ Schreibtisch glich einer aufgegebenen kommunalen Mülldeponie, die eben im Begriff stand, aus ihrem feuchten, dunklen Innern neues Leben entstehen zu lassen – eine Metapher, die so falsch nicht war. Und wirklich – sein Schreibtisch entpuppte sich alsbald als ein Ort voller Leben. Irgendwo aus der linken hinteren Ecke, zwischen den abgelegten Farbausdrucken des Kalaminia-Exposés von 98, den verklebten, mittlerweile ungültigen Briefmarken, der noch zart nach Tabasco duftenden Mexican-Pizza-Schachtel von letzter Woche und dem abgekauten Bleistiftstummel von gestern lugten scheu und vorsichtig zwei zwei Zentimeter lange, haarige Fühler hervor, die in hochfrequenten Schwingungen vorsichtig die umgebende