Godcula. Hans Jürgen Kugler
denn aus Einsicht in irgendwelche typographischen Zusammenhänge.
Es schlug punktgenau halb zwei, als er Fred Schwiemler seinen Entwurf auf den Tisch legen konnte. Das heißt, er hätte ihn ihm punkt halb zwei auf den Tisch legen können, wenn Fred in seinem Büro gewesen wäre.
Irgendwie hatte er genau das erwartet. Kurt machte sich eine Notiz und dann schnellstmöglich wieder aus dem Staub. „Das musste ja so kommen“, dachte er. Vorgesetzte liebten es ja, ihre Mitarbeiter bei jeder Gelegenheit erst einmal gehörig auf Trab zu bringen, um sie dann fachgerecht ins Leere laufen zu lassen. Aber er würde Fred nicht den Gefallen tun und dessen von ihm angeforderten Unterlagen einfach auf seinen Schreibtisch ablegen. Die musste er sich schon höchstpersönlich bei ihm abholen. Man hat ja schließlich auch seinen Stolz. (Ein Stolz, der zumeist größer als man selbst ist und deshalb nicht selten mit dem Kopf an die Decke stößt. Ein Dickkopf, ein Holzkopf, der auf Holz k[l]opft! Haha!)
Er ging zu seinem Büro am Ende des Flurs zurück. Irgendwie war Kurt doch erleichtert, dass Fred nicht da war, um mit ihm über sein Ameisenexposé zu diskutieren. Obwohl Fred nicht die geringste Ahnung davon hatte, was für eine Arbeit es bedeutete, auf die Schnelle eine ansprechende und – wie hatte er doch gleich sich nicht entblödet zu sagen: eine „tabellenkalkulatorisch brauchbare“ Vorlage zu erstellen, fand er dennoch oder gerade deswegen stets irgendeinen Mückenfurz, an dem er herumkritisieren konnte, auch wenn jedes einzelne von ihm dazu geäußerte Wort ihm seine eigene abgrundtiefe Inkompetenz in Gestaltungsfragen in geradezu exemplarischer Weise vor Augen führen musste. Er stellte sich bei diesen Gelegenheiten blubbernder Mäkelei immer eine Sprechblase über seinem Kopf vor, die bei jedem begonnenen Satz in signalroter Schrift „Achtung! Akute Verbaldiarrhöe!“ auf kackbraunem Untergrund aufleuchten ließ. Das Lächeln, das daraufhin über Kurts ansonsten unschuldige Miene strich, übersah Fred entweder geflissentlich oder er nahm es gar nicht erst wahr, wenn er seinen entrückten Silberblick in die Ferne schweifen ließ, um nach den passenden Worten zu suchen, die seine Unfähigkeit, was Typographie und Gestaltungsfragen anbelangte, mit möglichst exotischen Wortkombinationen verschleiern sollte. Manchmal gelangen ihm dabei auf diese Weise geradezu lyrische Momente: „Diese Schrift atmet eine irgendwie larmoyante Paranoia, findest du nicht auch?“
Das waren so Augenblicke, in denen er am liebsten auf der Stelle lauthals schreiend, wild gestikulierend und türenschlagend den Raum verlassen hätte, um hinfort eine Karriere bei der Müllabfuhr anzustreben.
Sein Blick fiel auf die Überreste des seltsamen Insekts, das sein kurzes Leben auf seinem Schreibtisch ausgehaucht hatte. Kurt kannte sich mit Insekten nicht allzu gut aus, aber er war sich sicher, dass er ein solches Exemplar noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte. Es besaß einen ziemlich langen, spindelförmigen Körper wie der einer Heuschrecke, hatte aber nur – tatsächlich! – vier Beine und zwei ziemlich lange Fühler, die jedoch durch die Gewalt seines zusammenrutschenden Papierstapels geknickt waren. Sehr zäh scheint dieses Viech ja nicht zu sein, dass ihm so ein paar Blätter Papier bereits den Garaus zu machen vermögen. Er nahm ein frisches DIN-A4-Blatt aus der Ablage und schob mit dem Deckel des Klebestiftes die schmutzig-braunen Überbleibsel darauf, um sie aus dem Kippfenster zu werfen.
„Tut mir wirklich leid, mein Freund. Aber was verfügst du dich auch unvorsichtigerweise in den Wirkungskreis eines kreativ schaffenden Geistes?“
4 Bandaraneike sucht Erleuchtung
Religion ist nichts anderes als die individuelle ideelle Rückführung des Einzelnen hin zu einer Zentralen Ordnungsgemäßen Führungs-Figur, dem ZOFF …
(aus: Godcula’s Kleines Brevier der Tiere, a.a.O., Band XV, Kapitel .0.1.0.1.0. Relikt, Religion und Relais – Die alphanumerische Adäquanz Biontischer Systeme (ABS), Seite 1010011.0 ff.)
Bandaraneike Kalinichta Manyate Sakalaani, bürgerlich Walburga-Theresia Jacqueline Müller-Schnute, war gerade drauf und dran, der einzigen, wahren, finalen, endgültigen Erleuchtung teilhaftig zu werden, als sie einen Wadenkrampf bekam. Ärgerlich! Sie konnte ihren Körper vollkommen beherrschen, aber dagegen war sie machtlos. Sie fühlte, wie sich ihre Beinmuskeln schlagartig zu dicken, knotigen Seilen verkrampften und spürte den flammenden Schmerz von ihren Beinen ausgehend sich über ihren ganzen Körper ausbreiten.
Wenn sie doch nur an ihre tachyonisierten Energiesteine herankäme! Sie würde zwei der hochenergetischen roten und je einen der niederfrequenten flachen blauen Steine nehmen, sie in Richtung des intergastrocnemischen Meridians sanft entlanggleiten lassen, um die negativen Energien abzuleiten, und ruckzuck wären die Schmerzen verschwunden.
Unglücklicherweise hielten genau diese Schmerzen in ihren Waden sie davon ab, ihre Beine auch nur einen Millimeter weit auszustrecken und zu belasten. Es war ihr schlicht unmöglich, sich von ihrem Lotussitz zu erheben und zu ihrem heiligen Schrein in der anderen Ecke des Raumes zu gehen, wo sie ihre heilkräftigen Tachyonensteine aufzubewahren pflegte. Aber die ätherischen Lichtgestalten aus den Pleiaden meinten es trotzdem gut mit ihr: Nach ein paar Minuten lösten sich die verknoteten Wadenmuskeln wieder, der Schmerz flutete zurück in den Boden. Sie hatte ja erst vor kurzem ihren Flokati, auf dem sie saß, mit einigen dieser Glaszellen behandelt, das kam ihr jetzt zugute. Der auf diese Weise energetisch hoch aufgeladene Flor hatte dadurch seine paradimensionale Heilkraft wirken lassen können und die negativen Energien des Wadenkrampfes über den Boden abgeleitet.
Sie hatte gerade damit begonnen, nach Art der Yoshimala-Tiefenentspannungsmassage die Energiepunkte an ihren Knöcheln mit ihren Fingerspitzen vorsichtig zu umkreisen, um den astralen Kräftefluss in ihren Waden wieder in geregelte Bahnen zu lenken als unverhofft ihr Telefon läutete. Plötzlich hatte sie es sehr eilig. Das war bestimmt Kayru, Kayru Manwardamahardran, ihr spiritueller, fein- wie grobstofflicher Begleiter und Lehrer, der sie erst vor zwei Wochen verlassen hatte und jetzt bestimmt reumütig wieder um Aufnahme der abgebrochenen Beziehung zu ihr betteln würde. Da hätte er sich aber geschnitten! Er könnte ihr tausendmal erzählen, wie sehr er sich geirrt hätte, wie sehr er sie vermissen würde – Nein! Nein! Nein! Sie würde ihm nicht vergeben. Niemals! Da könnte er mit tausend Engelszungen reden und sich von allen heiligen astralen Geistern sämtlicher spiritueller Ebenen empfehlen lassen – Nein, Nein, Nein!
Sie stürzte so hastig ans Telefon, dass sie noch über eines ihrer kleinen Meditationskissen stolperte und kickte es wütend in die Ecke.
„Ja, hier Bandaraneike“, sagte sie in einem Tonfall, der unwillkürlich an rotes Plüsch und schummrige Kerzenbeleuchtung denken ließ.
„Hallo? Ah ja, hier ist Pandemius, der Klient für heute abend …“
„Mist!“ dachte sie. Gerade eben war sie noch so schön geladen gewesen, hatte sich eben so richtig schön in Rage gedacht, dass sie diesem Scheißkerl endlich einmal alles das an den Kopf hätte werfen können, was sie ihm schon immer hatte sagen wollen; jetzt war sie gerade in der richtigen Stimmung, um all diese miesen Gefühle, all diese in ihr blockierten bad vibrations endlich mal rauslassen zu können – und dann ist da nur dieser dämliche Heini Pandemius am Apparat, der Herr Doktor von irgendso einer obskuren Universität, der sich bei ihr ein paar kostenlose – na ja, fast kostenlose – Streicheleinheiten abholen wollte, weil ihm sein stressiger Job so sehr auf die Nerven geht, dass seine gesamte maskuline Stofflichkeitspräsenz nur aus Verspannungen und Blockaden zu bestehen schien.
„Hallo? Bandaraneike? Sind Sie noch dran? Ich …“
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte, ich hatte hier nur noch gerade eine Kleinigkeit zu erledigen. Aber jetzt bin ich wieder voll und ganz für Sie da.“ Sie bemühte sich, in ihrem Tonfall nichts von der Enttäuschung anmerken zu lassen, die sie durch ihren nun doch wieder heruntergeschluckten kathartischen Ausbruch hatte hinnehmen müssen.
„Es geht um unseren Termin für heute Abend. Ich fürchte, ich werde ihn heute nicht wahrnehmen können. Wir stehen heute vor einem äußerst wichtigen Abschluss und ich habe keine Ahnung, wie lange das heute Abend dauern wird. Wäre es Ihnen vielleicht morgen möglich … so am frühen Abend vielleicht?“
„Mal sehen“, sie tat so, als würde