Todesritter. Anna-Lina Köhler

Todesritter - Anna-Lina Köhler


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sich tief in die Brust des Mannes, durchdrang selbst das einfach gestrickte Kettenhemd. Die Wucht, mit der er getroffen wurde, war so groß, dass er nach hinten fiel und vom Pferd stürzte. Das Orakel parierte das Pferd durch und griff nach den Zügeln des neu gewonnenen. Es dauerte, bis sich das Tier beruhigt hatte und zitternd zum Stehen kam. Lysia hob den Kopf, sah Lia, wie diese sich mit hohem Tempo dem verbliebenen Mann näherte. Sie schien ihn nicht auf die gleiche Weise töten zu wollen, wie es zuvor das Orakel erledigt hatte.

      Vorsichtig lehnte sich die Todes Tochter ein Stück zur Seite und hob Rufus hoch. Die schwarze Klinge bildete einen wunderbaren Kontrast zu der aufgehenden Sonne. Das Mädchen erkannte, wie die Furcht sich in den Augen ihres Gegenübers spiegelte, als er begriff, was sie plante. Hastig versuchte er noch sein Schwert zu ziehen, doch seine Hand rutschte durch die ungleichmäßigen Bewegungen seines Tieres immer wieder vom Griff seiner Waffe – er war verloren. Während er an Lia vorbeiritt, riss sie Rufus schwungvoll in die Höhe und trennte ihm damit den Kopf von den Schultern. Sein Schädel flog hoch in die Luft. Als er auf dem Boden aufschlug, zerplatzte der Kopf mit einem lauten Knall und die Todes Tochter sah, wie sich sein Hirn über das Gras ergoss. Lia riss ihr Pferd am Zügel herum, um zu sehen, wohin das andere Tier gelaufen war.

      „Gute Arbeit“, ertönte plötzlich eine wohlbekannte Stimme und sie sah, wie Enago den Rest des Soldatenkörpers aus dem Sattel stieß und sich selbst hineinschwang.

      Ein paar Meter von ihr entfernt stieg Keira gerade auf ein weiteres Pferd, das das Orakel für sie bereitgehalten hatte. Die beiden hatten sich die Nacht lang in einem Gebüsch nahe dem Wachturm versteckt und auf diesen Augenblick gewartet. Ihr Plan war geglückt, sie besaßen ein paar der schnellsten Pferde des Landes.

      Ihre Reise konnte beginnen – erneut.

      Das Geheimnis in der Tiefe

      Es war ein schönes Gefühl, über die Wege der Wälder zu reiten, die Bäume im Bruchteil einer Sekunde an sich vorbeiziehen zu sehen. Lia genoss es, den Wind in ihrem Gesicht zu spüren, während sie hinter Keira galoppierte und nicht zum ersten Mal fiel es ihr auf, wie sehr sie sich in den letzten Wochen doch verändert hatte. Sie konnte sich noch genau an den Tag erinnern, als sie und Ragon zum Lunus Berg aufgebrochen waren. Damals war ihr nicht wohl bei dem Gedanken gewesen, auf ein Pferd zu steigen, geschweige denn es mit hohem Tempo durch die dicht stehenden Bäumen zu lenken. Stets hatte sie gefürchtet zu fallen. Jetzt war es anders. Sie spürte deutlich, wie das Tier unter ihr atmete, wie es sich bewegte und diese Bewegungen vermittelten Lia ein Gefühl der Freiheit. Es war, als ob sie ungezwungen an jegliche Orte dieser Welt reiten konnte, zeitlose Entscheidungen treffen durfte und sich keiner Aufgabe bewusst war. Natürlich war sie sich darüber im Klaren, dass dieses Gefühl wieder enden würde. Die Wahrheit würde sie mit derselben Brutalität erreichen, mit der sie sie in den letzten Monaten immer wieder konfrontiert hatte. Für sie gab es keine Freiheiten mehr, keine leichtfertigen Entscheidungen, sondern nur die eine bedeutsame Aufgabe. Ihr Schicksal hatte sie damals völlig unerwartet getroffen. Sie war weder vorbereitet gewesen, noch hatte sie überhaupt eine Ahnung von dem besessen, was sie erwartete. Der erste Schritt in der Erfüllung ihrer Aufgabe war getan. Dennoch war sie gezwungen, sich immer wieder dieselbe qualvolle Frage zu stellen: Zu welchem Preis? Das Einzige, was ihr im Leben etwas bedeutet hatte, war ihr genommen worden. Es war einfach aus ihrem Leben verschwunden, ohne dass sich die Erde durch sein Ableben auch nur ansatzweise geändert hatte. Dafür hatte sich ihr Leben verändert.

      Lia sah, wie das Orakel neben ihr auftauchte. Sie hielt sich mit den Händen in der langen Mähne ihres Pferdes fest und achtete darauf, stets den Weg vor ihr im Auge zu behalten. Lia wusste, dass sie eigentlich nicht alleine war. Die Schicksale ihrer Gefährten lagen direkt neben ihrem eigenen Pfad. Ihre Aufgaben waren unterschiedlich, dennoch führten sie sie in dieselbe Richtung. Lia musste schlucken. Sie war nicht alleine und dennoch konnte sie auch durch dieses Wissen die Kälte in ihrem Inneren nicht mehr dazu bewegen, zurückzuweichen. Äußerlich hatte nicht jeder die Todes Tochter verlassen. Innerlich jedoch regierte die Einsamkeit und fraß unbemerkt ihre Seele.

      Die Sonne stand mittlerweile an ihrem höchsten Punkt, doch ihre wärmenden Strahlen drangen nur teilweise durch die dichten Wipfel der Bäume hindurch und fielen auf den Waldboden. Die Bäume standen nun so dicht, dass es den Gefährten unmöglich war, den Wald im Galopp zu durchqueren. Das bunte Laub auf dem Boden raschelte bei jedem Schritt der Pferde und erinnerte Lia manchmal an das Rauschen des Windes.

      Es war still. Niemand hatte es seit ihrem Aufbruch gewagt, die Stimme zu erheben. Sie alle konzentrierten sich auf die Tiere unter ihnen und folgten Keira. Die Seherin wusste offenbar ganz genau, wo sie sich befanden. Die Todes Tochter war, seit sie denken konnte, eine Vertraute des Waldes. Es fiel ihr nicht schwer, sich lange Wege in Wäldern einzuprägen, die im Grunde jedoch alle ziemlich gleich aussahen. Sie achtete auf die feinen Unterschiede, die Baumarten, die Tiere und dennoch musste sie dieses Mal zugeben, dass es ihr schwerfiel, die Orientierung zu behalten.

      Mit der Zeit begann ihre Umgebung sich zu verändern. Die Bäume, die sich zuerst mit ihren bunten Blättern geschmückt hatten, wurden kahl und stachen als riesige, graue Ungetüme in den Himmel. Lia fing ein kleines Laubblatt auf, das sich gerade vom Ast gelöst hatte und zur Erde hinabgesegelt war. Sie betrachtete es kurz auf ihrer flachen Hand. Es hatte einen schönen kräftigen Gelbton angenommen. Lia seufzte und ließ es aus ihrer Hand gleiten. Wenn es am Boden angekommen war, würde sich das Gelb schnell in ein hässliches Braun verwandeln. Das Blatt würde vermodern, eins werden mit seinem Untergrund. Aber war nicht gerade das der Kreislauf allen Lebens? Nachdem man vom süßen Saft des Daseins kosten durfte, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis einem unter Bergen von Schmutz die Maden aus den leeren Augenhöhlen krochen. Die Zeit saß jedem im Nacken und niemand konnte diese Uhr zum Stillstand bringen. Das war die Kehrseite des Lebens. Es forderte einen Preis, den man von dem Augenblick an bezahlte, an dem man die Augen aufschlug. Und jedes Geschöpf entrichtete eine unterschiedlich hohe Summe. Denn jedes Leben bestand aus einem Schicksal und einer Aufgabe. Beides war mit Prüfungen verbunden, die unterschiedlich schwer waren. Während viele Menschen das Leben genossen, veränderte die Aufgabe für manch andere einfach alles.

      Lia wusste, dass sie auserwählt worden war, zu der einen Seite zu gehören, deren Prüfung aus Leid und Schmerzen aufgebaut worden war. Schon einige Male hatte sie sich gefragt, ob sie etwas Besonderes war, ob sie sich durch ihr Schicksal von den anderen Geschöpfen abhob. Letztlich war sie jedoch immer wieder zu der Erkenntnis gelangt, dass ihre Aufgabe einem Fluch gleichkam, nicht der einer besonderen Persönlichkeit.

      Um sie herum standen nun lauter kahle Bäume. Ihre Äste hingen tief herab, so als ob sie die Gefährten daran hindern wollten, weiterzureiten. Lia beugte sich immer wieder zur Seite, damit ihr der Wind die dürren Zweige nicht ins Gesicht schlug. Es begann langsam immer kälter zu werden. Die Sonne wurde von einer dicken Schicht aus traurig grauen Wolken verschluckt und dichter Nebel senkte sich langsam auf sie herab. Wie von selbst musste Lia an den Weg zur Höhle des Schattens denken. Damals, als sie kurz vor ihrem Kampf gestanden hatte, war es ihnen genauso ergangen wie jetzt. Mit jedem Schritt, mit dem sie ihrem Ziel näherkamen, veränderte sich alles um sie herum, als sollte ihnen gezeigt werden, dass sie hier falsch waren. Damals war es ein Bann gewesen, der sie davon abhalten sollte, näher zu kommen. Ihre Bewegungen waren nur schwer zu lenken gewesen, jeder Versuch, zu atmen, ein einziger Kraftakt. Der finstere Wald jedoch griff auf etwas anderes zurück. Er versuchte in den Seelen seiner Besucher den Funken Angst oder zumindest Unbehagen zu entfachen, der sie letztlich zum Umkehren bewegen sollte.

      Die Kälte grub sich allmählich in Lias Knochen und ließ das Mädchen frösteln. Sie strich sich über den rechten Arm und versuchte so, den Schauer zu vertreiben.

      „Wir sind da.“

      Lias Kopf schnellte nach oben. Vor ihr hatte die Seherin ihr Pferd zum Stehen gebracht und starrte nun gebannt auf eine Wand aus weiteren Bäumen. Hastig trieb die Todes Tochter ihr Tier an, um zu ihr aufzuschließen und auch Enago und Lysia setzten zu ihnen auf. Die Bäume, die sich vor ihnen in die Höhe streckten, glichen auf den ersten Blick denen, die sie bereits hinter sich gelassen hatten. Bei genauerem Hinsehen jedoch waren sie alles andere als gewöhnliche Sprösslinge


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