Todesritter. Anna-Lina Köhler

Todesritter - Anna-Lina Köhler


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wie gebannt der Stimme in seinem Kopf lauschte.

      „Ich weiß, wer du bist. Ich habe dich geprüft und du hast bestanden! Du musst wissen, dass das nur die Wenigsten tun! Meist verenden sie, lange bevor der Schmerz ihre Seele erreicht. Du hast es geschafft, ihn zu ertragen und dir damit meine Anerkennung verdient! Ich brauche Männer wie dich, Dragan. Männer, die sich nicht ängstigen und die sich nicht von unnützen Dingen wie Gefühlen ablenken lassen. Ich begehre jemanden wie dich, um eine ganz bestimmte Aufgabe zu erfüllen.“

      „Was für eine Aufgabe?“ Als der Schmerz plötzlich entschwunden war, war Dragans Neugier geweckt worden. Es war, als ob er unter einem Bann stünde, gefesselt an die Worte der unheimlichen Stimme.

      „Eine Aufgabe von ungeheurer Wichtigkeit!“, antwortete ihm das Zischen. „Aber zuerst werde ich dir meine Geschichte erzählen, damit ich sicher sein kann, dass du die Aufgabe gewissenhaft erfüllen wirst.“

      Dragan riss begeistert die Augen auf, seine Hand umklammerte den Griff des Messers. Gespannt wartete er auf neue Informationen, wartete, dass die Stimme erneut zu ihm sprach, doch zunächst blieb es ruhig. Dragan wischte sich mit einer Hand den Schweiß von der Stirn und legte dann das Messer zur Seite. Er wagte es nicht zu sprechen, wagte es nicht, nach dem Zischen in seinem Kopf zu rufen. Die Stille war bedrückend. Sie legte sich wie dichter Nebel um den jungen Mann, hüllte ihn ein und erschwerte es ihm zu atmen. Als Dragan schon dachte, er sei ein Opfer seiner eigenen Einbildung geworden, drang erneut ein abscheuliches Lachen an sein Ohr. Erschreckt zuckte er zusammen, verspürte jedoch gleichzeitig Erleichterung darüber, dass er sich die Stimme nicht eingebildet hatte. Gespannt hielt er die Luft an, als das Zischen in sein Ohr flüsterte.

      „In dieser Welt nennt man mich den Schatten…“

      Im Schutz der Dunkelheit

      Es war ein perfekter Moment, eine perfekte Nacht. Am Himmel stand kein Mond, der etwas Licht spenden konnte. Stattdessen versuchten Wolken und dichter Nebel die Nacht noch finsterer zu gestalten. Ein leichter Wind kam auf. Das Heulen und Rauschen, das er verursachte, wenn er zwischen die Blätter der Bäume fuhr oder um die Ecken der Häuser wehte, ließ schnell einen unachtsamen Soldaten die wichtigen Geräusche überhören. Aus den Mauern der Stadt drang kein Laut. Nur die Stille beherrschte die Nacht. Es war beängstigend.

      Ein Mädchen kniete hinter einem hüfthohen Gebüsch und spähte mit ihren blutroten Augen zwischen die Äste hindurch. Sie befand sich im Westen, am Rande der Stadt. Vor ihr stand ein steinerner Turm, groß und mächtig stach er in den tiefschwarzen Himmel hinein. Trotz seiner gewaltigen Größe bestand der Turm lediglich aus faustgroßen Steinen, die mit etwas Mörtel übereinandergestapelt worden waren. Wie das Gebäude all die Jahre überstanden und Wind und Wetter getrotzt hatte, war dem Mädchen ein Rätsel. Plötzlich ertönte hinter ihr ein Rascheln und obwohl sie wusste, wer dastand, glitt ihre Hand ganz automatisch an den Griff einer Waffe.

      „Wir sind so weit“, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr.

      Lia hob langsam die Hand, griff nach der Gestalt hinter ihr und zog das Orakel langsam zu sich hinter das schützende Gebüsch. Trotz der sie umgebenden ungewöhnlichen Finsternis befürchtete sie, dass das weiße Kleid des Orakels ihnen gefährlich werden könnte. Vorsichtig legte sie einen Finger auf die Lippen und zeigte mit der anderen Hand nach oben. Lysia verstand nicht sofort. Fragend zog sie die Augenbrauen nach oben und zuckte mit den Schultern. Lia rückte ein Stück näher an sie heran, ihr Atem bildete kleine Wolken. Es war unangenehm kalt für diese Jahreszeit.

      „Siehst du die Brücke, die den Wachturm mit der vorderen Befestigungsmauer verbindet?“

      Als Antwort kniff Lysia nur übertrieben ihre haselnussbraunen Augen zusammen und starrte in die Nacht hinein. Im Gegensatz zu Lia erkannte das Orakel kaum die blassgrauen Steine, aus denen die Verbindungsbrücke bestand. Eigentlich konnte man ihr das nicht verübeln. In dieser Nacht etwas zu erkennen, war, als ob man in einen klaren blauen Himmel blickte und eine Gewitterwolke zu sehen versuchte. Doch Lia sah diese eine Wolke. Seit Kurzem vermochte sie ebenso perfekt in der Dunkelheit zu sehen wie am Tag. Jedes Detail wurde mit einem Mal schärfer. Jede Bewegung bestand aus vielen kleinen Einzelteilen, perfekt zusammengesetzt zu einem Ganzen. Es war, als ob sich mit Lias Augenfarbe auch ihr Sehvermögen von Grund auf geändert hatte. Sie sah die Brücke in der Finsternis, sah ihren Weg.

      „Ok“, flüsterte sie. „Dann bleib dicht hinter mir und pass auf, dass du keinen falschen Schritt machst!“

      Schon wollte das Orakel sich erheben und hinter dem Gebüsch hervortreten, doch im letzten Augenblick bekam Lia den Saum ihres Kleides zu fassen und riss sie zurück nach unten.

      „Bist du wahnsinnig?“, zischte sie, doch Lysia blickte ihr nur mit einem völlig verwirrten Gesichtsausdruck entgegen. Die Todes Tochter seufzte.

      Langsam kroch sie ein Stück nach vorne und schob ein paar Äste zur Seite, dann winkte sie Lysia zu sich. Mit der einen Hand hinderte sie die Zweige daran, zurück in ihre ursprüngliche Position zu fallen, mit der anderen deutete sie auf etwas tief in der Nacht. Sie wusste, dass es für das Orakel schwer war, etwas zu erkennen, aber sie war sich sicher, dass auch sie den Soldaten, der ein Stück neben dem Wachturm stand, bemerkte. Er hielt eine geradezu winzige Laterne in der Hand. Die schon beinahe heruntergebrannte Kerze in der Laterne spendete nur wenig Licht. Dieser verkümmernde Schimmer durchleuchtete die Finsternis kein Stück, sondern wurde von ihr verschluckt, sodass man sie nur noch bei sehr genauem Hinschauen erkannte. Die andere Hand des Soldaten ruhte auf dem Griff eines großen Schwertes und das sah nicht so aus, als ob es noch nie benutzt worden war.

      Das Orakel benötigte eine Weile, um die Gefahr zu erkennen, die sich neben dem Wachturm befand. Doch als auch sie den Mann gesehen hatte, nickte sie Lia kurz zu.

      „Wie kommen wir an ihm vorbei?“, fragte sie schließlich.

      Die Todes Tochter musterte den Soldaten kurz. Er stand leicht seitlich mit dem Rücken vor einer kleinen morschen Holztür, dem Zugang zum Turm. Seine Brust wurde durch ein dickes Kettenhemd geschützt, sein Kopf befand sich unter einem Helm und auch an den Handgelenken trug er feste Metallreifen. Es war also unmöglich, ihn dort zu verwunden. Wenn sie ihn am Bein oder Fuß traf, würde ihn das nicht schnell genug außer Gefecht setzen. Er hätte Alarm geschlagen, noch ehe Lia ihn getötet hätte und dann wäre ihr Plan gewaltig fehlgeschlagen. Nervös fuhr sie sich mit der Hand durch die Haare. Plötzlich fiel ihr Blick auf seinen Hals. Der Helm legte sich schützend über seinen Kopf und Nacken. An den Seiten befand sich jeweils ein Lederriemen, die dann in der Mitte verknotet worden waren. Es schien, als wäre er perfekt gewappnet, vor jedem noch so überraschenden Angriff bewahrt. Doch seine so vermeintlich sichere Ausrüstung wies einen einzigen markanten Fehler auf und diesen hatte Lia soeben entdeckt. Dort, wo sein Helm mit den beiden Riemen verschlossen worden war, lugte eine kleine unscheinbare Stelle seines Halses hervor. Jeder gewöhnliche Mensch hätte diesen winzigen Angriffspunkt in der Schwärze der Nacht übersehen, doch Lia war nicht gewöhnlich.

      „Gib mir eins deiner Messer“, flüsterte sie Lysia zu. Das Orakel schaute die Todes Tochter leicht verwirrt an, griff jedoch sofort an den Gürtel unter dem Kleid und zog einen Dolch hervor. Sie wollte ihn Lia reichen, doch die schüttelte nur abwehrend den Kopf.

      „Er ist zu schwer. Ich brauche etwas Kleines, Leichteres.“

      Verwundert steckte Lysia die Waffe zurück. Es dauerte eine Weile, bis sie etwas Passendes gefunden hatte, doch schließlich hielt Lia ein kleines Messer in der Hand. Sie verdeutlichte Lysia mit einer kurzen Handbewegung, dass sie jetzt absolut still sein musste, dann kroch sie ein Stück von dem Gebüsch weg. Lia zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Peinlich genau achtete sie auf jede ihrer Bewegungen. Ein falscher Schritt, eine kleine Unachtsamkeit, wie das Zerbrechen eines Zweiges, und der Soldat würde auf sie aufmerksam werden. Schließlich befand sich die Todes Tochter in einer günstigen Position. Vorsichtig richtete sie sich auf. Dreck und bunte Blätter klebten an ihrem Kleid, doch sie kümmerte sich nicht darum. Sie konzentrierte sich auf ihr Ziel, sah nichts mehr außer der freien Stelle am Hals des Soldaten. Sie verließ sich nun ganz


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