Todesritter. Anna-Lina Köhler

Todesritter - Anna-Lina Köhler


Скачать книгу
Ihre dürren Äste verhakten sich in denen ihres Nachbarn und selbst kleinen Vöglein fiel es schwer, sich hindurchzuquetschen. Die Stämme der Bäume boten einen gewaltigen Umfang und Lia zweifelte stark daran, dass sie, selbst wenn sie alle ihre Gefährten bei den Händen nähme, auch nur ansatzweise einmal um das mächtige Ungetüm herumpassten. Die Bäume wiegten sich leicht im Wind, was wegen ihrer ungeheuren Größe angsteinflößend und bedrohlich wirkte.

      Lia blickte zur Seite. Keira hatte ein sanftes Lächeln aufgesetzt und Lia überkam das Gefühl, dass sie diesem Ort nichts Unheimliches abgewinnen konnte, genau das Gegenteil war der Fall. Auch das Gesicht des Orakels zierte ein spitzes Grinsen. Ihre haselnussbraunen Augen waren weit aufgerissen und es war, als ob sie mit ihrer Seele selbst durch die Wand aus Bäumen hindurchstarren konnte. Enago dagegen hatte die Augenbrauen hochgezogen und starrte mit einem mehr oder weniger verwunderten Ausdruck auf die Ungetüme vor ihm. Es beruhigte Lia ein wenig, dass sie nicht die Einzige war, die sich an diesem Ort überhaupt nicht willkommen fühlte. Dennoch wusste sie, dass sie etwas von dem ehemaligen Schattendiener unterschied. Während Enago mit Sicherheit kehrtgemacht hätte, wäre die Todes Tochter erst recht - von Neugier getrieben - dem Geheimnis gefolgt, das der Wald vor ihnen verbarg. Lia unterdrückte ein spöttisches Grinsen.

      Sie alle waren überzeugt davon, dass sie mit ihren muskelbepackten Körpern und unbändigen Temperamenten die perfekten Voraussetzungen eines großen Kriegers mitbrachten. Mit ihren riesigen Waffen und dem Glauben, sie alleine entschieden eine Schlacht, stürzten sie sich alle früher oder später in den Tod. Ihr Verstand begriff dabei nicht, dass durch unkontrolliertes Handeln und sinnloses Blutvergießen kein Krieg gewonnen wurde. Denn sie alle waren Marionetten eines Einzelnen.

      Enago hatte es geschafft, sich von seinen Fäden zu lösen. Anstatt sich für seinen ehemaligen Meister bereitwillig in das Schwert des Todes zu stürzen, hatte er sich dafür entschieden, mit Verstand zu kämpfen und konzentriert jeden Tropfen Blut aus seinen Feinden herauszupressen. An Stelle von unbeherrschbarem Zorn, der ihn auf seine Gegner hatte wild einstechen lassen, behielt er nun sein Ziel, seine Aufgabe im Kopf. Vielleicht würde die Todes Tochter ihn dafür sogar bewundern, wenn da nicht noch etwas wäre, das jedem irgendwann einmal im Weg stand – die Angst. Viele Menschen konnten ihre Furcht vor der Außenwelt verbergen. Doch wenn man lange genug danach suchte, entdeckte man immer etwas, das die Menschen in die Knie gehen ließ und dieses Etwas trat allzu häufig als Liebe auf.

      Lia hatte das begriffen und mit dem Tod Ragons war ihr das Letzte genommen worden, für das sie die Bezeichnung ‚Liebe‘ als passend empfunden hatte. Sie hatte sich geschworen, die Schwäche, die Angst für immer aus ihrer Seele zu verbannen. Wenn sie das geschafft hatte, brauchte sie sich nie wieder um etwas sorgen.

      „Und wie kommen wir jetzt weiter voran?“ Enagos Stimme riss Lia wieder aus ihren Gedanken.

      „Er hat recht“, pflichtete sie ihm bei. „Wir sind nicht gekommen, um uns von ein paar Bäumen aufhalten zu lassen, sondern um den Stein in Sicherheit zu bringen.“

      Lia hatte nicht gewollt, dass ihre Stimme etwas Bedrohliches bekam. Dennoch konnte sie sehen, wie Keira verwundert zusammenzuckte. Beschwichtigend hob die Seherin die Hand und wandte sich mit einem Lächeln ihr zu.

      „Hab Geduld“, bat sie. Dann glitten ihre Füße aus den Steigbügeln und sie sprang mit einer fließenden Bewegung vom Rücken ihres Pferdes.

      Misstrauisch beobachtete das Mädchen, wie Keira langsam an den Bäumen vorbeiging und jeden von ihnen kurz musterte. Endlich fand sie den Richtigen, blieb stehen und zog den kleinen Dolch mit den Drachenköpfen aus ihrem linken Ärmel. So klein die Waffe auch wirkte, Lia wusste, dass die schöne Frau mit ihr bestens umzugehen vermochte.

      Keiras Finger fuhren an der grauen Rinde des Stammes entlang, bis sie auf eine kleine Kerbe stieß. Ihre wasserblauen Augen blitzten erfreut auf. „Ich hab es gefunden“, flüsterte sie. Dann steckte sie den Dolch mit dem Griff zuerst in die Kerbe hinein. Als sie sicher war, dass er nicht wieder herausrutschen konnte, packte sie ihn an der Klinge und drehte die Waffe einmal um sich selbst.

      Plötzlich verstand Lia. Keiras Dolch war nicht nur zur Verteidigung gedacht, sondern diente auch gleichzeitig als Schlüssel. Er war der Schlüssel zu Keiras Geheimnis.

      Schließlich zog die junge Frau ihren Dolch wieder aus der Rinde des Baumes und sprang zurück auf ihr Pferd. Ihr schönes Lächeln war nicht versiegt und Lia konnte deutlich erkennen, dass sie froh war, an diesen Ort zurückzukehren.

      Plötzlich ertönte ein leises Rauschen. Wind kam auf, der die Gefährten frösteln und ihre Tiere unruhig werden ließ. Beruhigend strich die Todes Tochter ihrem Pferd über den Mähnenkamm. Dann hob sie den Kopf, um mit anzusehen, welch ein besonderer Anblick sich vor ihr bot. Der Wind nahm mit jeder verstreichenden Sekunde weiter zu. Er brachte die Äste der riesigen Bäume zum Tanzen und wenig später wiegten selbst die Stämme sich leicht im Wind. Lia ließ ihr Pferd vorsichtshalber einen kleinen Schritt zurückgehen, dennoch zweifelte sie stark daran, dass sie einem umstürzenden Ungetüm noch rechtzeitig entkommen konnte.

      Die gewaltigen Stämme knarzten und ächzten unter der Kraft des Windes. Hinter ihnen wurden ein paar Blätter vom Boden aufgehoben und mit wilden Bewegungen durch die Luft geschleudert. Eines der Blätter verfing sich in der kunstvollen Hochsteckfrisur des Orakels. Doch das Mädchen störte sich nicht weiter daran, auch sie verfolgte gebannt, wie sich die beiden Ungetüme vor ihnen langsam in entgegengesetzte Richtungen beugten und der Durchgang zwischen ihnen größer wurde. Die grauen Stämme brachen immer weiter auseinander. Ihre Kronen, die bis eben noch in den Himmel geragt hatten, hingen jetzt schon fast waagerecht über der Erde, sodass Lia befürchtete, sie könnten in der Mitte zerbersten. Zwei große Raben, die bisher als einzige Zeugen des Lebens auf einem dicken Ast gesessen hatten, öffneten ihre Flügel und erhoben sich laut krächzend in die Lüfte. Bei jedem ihrer Schreie durchfuhr es die Todes Tochter eiskalt. Obwohl sie den Eingang zu Keiras geheimnisvollen Ort geöffnet hatten, wurde sie das ungute Gefühl nicht los, weiterhin unerwünscht zu sein. Lia schüttelte irritiert ihren Kopf. Nein. Es war nicht mehr dasselbe Gefühl, das sie ganz zu Anfang beim Betreten dieses Waldes ereilt hatte. Es war etwas anderes, das ihr Herz schneller schlagen ließ. Ihr Nacken brannte, es war, als ob sich zwei Augen wie brennende Eisen in ihre Haut fraßen und das zarte Fleisch verätzte. Sie fühlte sich beobachtet.

      Hastig drehte sich das junge Mädchen im Sattel herum. Kurz glaubte sie einen Schatten erkennen zu können, der sich im aufkommenden Nebel langsam erhob. Die Todes Tochter fixierte das ungewöhnliche Ereignis, versuchte, den schummrigen Umrissen mit ihren blutroten Augen ein Gesicht zu geben. Beim nächsten Wimpernschlag jedoch hatte sich die dunkle Gestalt wieder im Nebel verloren und Lia ahnte, dass ihr das seltsame Wetter und ihre Müdigkeit einen Streich gespielt hatten. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich nun erneut auf die Bäume vor ihr. Die beiden Stämme waren mittlerweile so weit auseinandergegangen, dass die Gefährten samt ihren Pferden geradeso hintereinander hindurchreiten konnten. Lia wartete, bis die anderen im finsteren Eingang verschwunden waren, dann blickte sie sich noch einmal um. Der düsterte Wald lag kalt und dunkel hinter ihr. Doch es war nicht mehr die bedrückende Atmosphäre, die ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Dichter, nahezu weißer Nebel hatte sich ausgebreitet und kam mit einer bedrohlichen Geschwindigkeit auf sie zu. Der Todes Tochter war es unmöglich, durch ihn hindurchzusehen und sie wusste, dass er eine Gefahr darstellte, sollte er sie erreichen. Bevor die dicken Nebelschwaden sie berührten, bohrte das Mädchen ihrem Pferd die Fersen in die Seiten und folgte ihren Gefährten.

      Sie wusste nicht, was sie erwartete. Vielleicht hatte sie sich in Gedanken das genaue Gegenteil des finsteren Dickichts von vorhin ausgemalt – strahlend blauer Himmel, immerwährend grüne Bäume, warmes Licht, Leben. Mit Hilfe ihrer Fantasie hatte sie einen schönen Ort geschaffen, der die Seele der Seherin widerspiegelte, eben zu Keira passte.

      Die Realität sah jedoch vollkommen anders aus. Nachdem Lias Pferd den letzten Schritt zwischen den zwei Ungetümen hindurchgegangen war und sich die Stämme wieder mit gleicher Anstrengung schlossen, empfing sie stickige und warme Luft. Lia musste husten, als sie versuchte, ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Ihr Hals begann zu kratzen und sie stellte fest, dass es ihr schwerfiel zu atmen. Ein beißender Gestank erfüllte die Luft,


Скачать книгу