Todesritter. Anna-Lina Köhler

Todesritter - Anna-Lina Köhler


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in den Beinen verloren. Danach war der Schmerz ruckartig weiter nach oben geklettert, sodass sich Dragan in eine Ecke übergeben hatte und nun quälten ihn schreckliche Kopfschmerzen. Der junge Mann hatte in seinem Leben sicherlich schon Schlimmeres erfahren müssen als einfache Kopfschmerzen, doch dieser unsagbare Schmerz war neu. Es war wie ein Zischen in den Ohren, wie ein Rauschen, das sich durch sein Trommelfell hindurch in sein Hirn fraß.

      Langsam versuchte Dragan seine Hände, die immer noch zu Fäusten geballt waren, zu öffnen und auf seine Ohren zu pressen. Doch sein kläglicher Versuch linderte seine Schmerzen keineswegs. Ganz im Gegenteil, die schrillen Laute, die sich durch seinen Kopf gruben, wie Maden durch einen gammligen Apfel, nahmen nur noch an Lautstärke zu. Ein leises Stöhnen drang über seine Lippen. Lange würde er diese Schmerzen nicht mehr ertragen können. Dragans Blick fiel auf sein mit Stroh gepolstertes Bett. Vorsichtig nahm er beide Hände von seinen Ohren und versuchte, ein Stück nach vorne zu robben. Seine Fingernägel gruben sich in das morsche Holz, dann zog er sich weiter vorwärts. Der Raum, in dem sich Dragan befand, war nicht sehr groß. Im hinteren Teil befanden sich ein klappriges Bett und eine kleine Kommode. Es gab keine Fenster, nur die Tür, durch die der junge Mann jeden Abend ging, wenn er sich schlafen legen wollte. Von der Tür bis zum Bett waren es lediglich wenige Schritte, doch Dragan empfand die Zeit unter diesen schmerzlichen Umständen als halbe Ewigkeit. Sein Bett nicht aus den Augen lassend, robbte er langsam weiter. Er spürte, wie sich feine Holzsplitter unter seine Fingernägel schoben und tief in sein Fleisch bohrten. Blut begann unter seinen Nägeln hervorzuquellen und befleckte den braunen Boden. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte Dragan laut aufgeschrien, hätte versucht, die Splitter schnellstmöglich zu entfernen. Aber im Gegensatz zu den Qualen, die er im Moment ertragen musste, kam ihm das morsche Holz unter seinen Nägeln vor wie ein kurzes Kratzen. Schweißperlen tropften von seiner Stirn. Doch der junge Mann wollte sich von seinen Schmerzen nicht besiegen lassen.

      Mit Füßen und Händen schob er sich immer weiter vorwärts. Wie lange Dragan nun wirklich gebraucht hatte, um seinen Schlafplatz zu erreichen, vermochte er im Nachhinein nicht mehr zu sagen. Als er eine Hand auf das Bett legte und seinen restlichen Körper nach oben zog, wurde ihm schwarz vor Augen. Was auch immer diese Qualen, die ihn heimsuchten, ausgelöst hatte, was auch immer für diese unsagbaren Schmerzen verantwortlich war, Dragan wünschte sich, es sollte endlich aufhören. Die Dunkelheit begann ihn einzuhüllen, begann damit, ihn langsam mit sich zu ziehen.

      „Nein!“

      Den jungen Mann überraschte es, dass er trotz seines Zustandes noch einen solchen Schrei von sich geben konnte. Er wollte noch nicht sterben, wollte diese Welt noch nicht endgültig verlassen. Sein Leben lang hatte er in Einsamkeit gelebt, zurückgezogen von allem, was atmete. Er konnte das Leben noch nicht verlassen, denn er hatte doch noch gar nicht gelebt.

      Kurz schweiften seine Gedanken ab. Er dachte an eine Göttin – an die Göttin Surah. Zwar schenkte diese das Leben, dennoch war sie auch für den Tod aller Lebewesen verantwortlich. Dragan hatte noch nie richtig Gefallen an all dem Übernatürlichen gefunden. Für ihn waren es Märchen, Legenden, die sich die Menschen ausdachten, um sich in ihrer langsam erstickenden Hoffnung auf Gnade nach dem Verenden an einen letzten, rettenden Grashalm klammern zu können. Jetzt, im Angesicht des nahenden Todes, bereute Dragan seine Ungläubigkeit. Er fragte sich, ob er jetzt hier auch läge, wenn er diejenigen, die die Göttin gepriesen und mit ihren Gesängen gelobt hatten, nicht verspottet hätte. Schließlich entschloss er sich, einen letzten verzweifelten Versuch zu wagen.

      Dragan zwang seine Hände, ineinanderzugreifen, er faltete sie und wälzte sich mit letzter Kraft auf den Rücken. Er wusste, dass er wohl kaum noch in der Lage sein würde zu sprechen, dennoch musste er es versuchen. Er wollte leben. Der junge Mann öffnete seinen Mund, doch anstatt flehender Worte stieß er lediglich einen erstickten Schrei aus. Sein Kopf drohte zu explodieren, das Geflüster fuhr durch ihn hindurch. Aus seinem Zimmer war ein düsteres Nichts geworden, Farben und Formen begannen vor seinen Augen zu einem zähflüssigen Brei zu verlaufen. Ein Zucken durchrann Dragans Körper. Panik stieg in ihm auf und er startete einen zweiten Versuch, dem Tod zu entrinnen.

      „Sie haucht das Leben ein …, strebt danach, zu geben“, zitierte er aus einem Lobeslied. Ein leises Bitten und ein kurzes Winseln um Gnade, dann verließ ihn seine Stimme erneut.

      Angst bemächtigte sich Dragans Körper, umhüllte seinen Verstand, als er begriff, dass es mit ihm zu Ende ging. Die kalte Hand des Todes legte sich auf seine Schulter, gebot ihm, ihr zu folgen. Dragan hatte Bilder erwartet, Bilder, die ihm noch einmal sein gesamtes Leben vor Augen führten, bevor er diese Welt verließ, doch nichts dergleichen geschah. Warum auch? Sein ganzes Leben lang hatte Dragan zurückgezogen verbracht, sich selbst mit Nahrung aus dem Wald versorgt. Es hatte ihn nie gekümmert, einen vernünftigen Beruf zu erlernen, zu heiraten oder eine Familie zu gründen. Das Einzige, was er kannte, war die Einsamkeit. Zum zweiten Mal an diesem Tag begann er zu bereuen. Nun kümmerte es niemanden, wenn er starb. Niemand trauerte um ihn, niemand würde ihn anständig begraben. Wie lange seine Leiche hier wohl noch liegen würde? Tage, Wochen oder sogar Jahre? Es gab wohl keine Hoffnung darauf, dass sich irgendeine Seele jemals hier herauf verirrte. Seine Leiche würde hier vermodern, sein Fleisch wäre vielleicht noch Nahrung für ein paar Ratten, doch nur seine Knochen blieben für immer und ewig auf dem Bett liegen bleiben.

      Dragan spürte, wie er die Kontrolle über seine Gliedmaßen verlor. Die Todesangst, die die Qualen in seine Seele gepflanzt hatte, griff auf seinen Verstand über. Wie lange er hier noch verweilen musste, auf der Brücke zwischen Leben und Tod, konnte er nicht sagen. Aber er wusste, dass er sich fürchtete, er fürchtete sich wie niemals zuvor und deshalb fiel ihm auch nur noch ein Ausweg aus dieser endlosen Situation ein.

      Als wieder ein Zucken durch seinen Körper fuhr und sich die zischenden Stimmen in sein Hirn bohrten, drehte er sich mit einem Aufschrei auf die Seite und griff nach seiner Kommode. Mit einem kräftigen Ruck riss er die oberste Schublade auf und langte mit zusammengebissenen Zähnen hinein. Seine Finger umschlossen den harten, kalten Griff seines Messers. Da Dragan alleine lebte, hatte er stets befürchtet, ein Opfer von Räubern zu werden und sich mit dem Messer eine Verteidigungsmöglichkeit erschaffen. Jetzt wurde das, was zu seinem Schutze gedacht war, zu seinem Henker. Dragan setzte das Messer an seinen Hals an. Er musste es nur noch mit einem Ruck durch seine Kehle ziehen, dann wäre er von seinem Leid erlöst. Er spürte, wie sich die scharfe Klinge in sein Fleisch grub und ein dünnes Rinnsal roter Lebenssaft an seinem Hals hinablief, jedoch vermochte er es nicht, sich den entscheidenden Stoß zu versetzen. Es war nicht seine körperliche Verfassung, die ihn daran hinderte und auch nicht die Angst. Es war etwas anderes, etwas Unheimliches, das ihn davon abhielt, dem Ruf des Todes zu folgen.

      Plötzlich verschmolzen all die wirren Stimmen in seinem Kopf. All das Durcheinander begann sich zu sortieren und aus dem Zischen wurde eine Stimme. Dragan wusste nicht, was ihm mehr Qualen und Angst bereitete, doch schon bald ahnte er, dass die anfänglichen Schmerzen nur ein kleiner Vorgeschmack gewesen waren.

      Ein dröhnendes Lachen erscholl auf einmal in seinen Gedanken. Das Lachen glich dem Zischen, nur weitaus mächtiger und bedrohlicher.

      „Was tust du da?“

      Dragan lief ein Schauer über den Rücken. Zuerst glaubte er, sein Verstand hätte nun endgültig versagt, er befände sich schon auf dem Weg in die Hölle, aber dann begriff er, dass die grausame Stimme wirklich zu ihm sprach.

      „Warum willst du dir die Kehle aufschneiden? Stell dir nur das ganze Blut vor, das aus deinen Adern herausspritzte. Das Zimmer wäre völlig ruiniert.“

      Dragan wagte nicht zu antworten, wagte es nicht, auch nur einen Muskel zu rühren.

      „Du hast dich tapfer geschlagen, Dragan. Bis jetzt hat es noch keiner überlebt, wenn ich ihm die Stimmen meines Gefolges in solchem Ausmaße geschickt habe. Du hast mich beeindruckt, Dragan.“

      „Woher kennt ihr meinen Namen?“ Endlich drangen Worte aus dem Mund des jungen Mannes.

      „Woher ich dich kenne, das spielt keine Rolle“, antwortete die unheimliche Stimme.

      Plötzlich spürte Dragan, wie das Gefühl zurück in seinen Körper schoss. Der Brei aus


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