Todesritter. Anna-Lina Köhler
und auf einer Seite der Schneide befanden sich viele kleine Kerben. Lia griff danach und wog das Messer in ihrer Hand. Es überraschte sie, als sie feststellte, wie schwer die kleine Waffe wirklich war. Ob der Griff aus einem Menschenknochen gefertigt worden war?
In der glänzenden Schneide fielen ihr wieder ihre Augen auf, die sie in einem gefährlichen Rot trotzig anblickten. Sie ließ das Messer sinken, wollte ihren Wandel nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch sie wusste, dass sie ihm nicht entfliehen konnte. Sie fuhr sich durch ihre braunen Haare. Es hatte lange gedauert, bis sie so lang geworden waren und Lia hing sehr an ihnen. Aber sie erinnerten sie zu sehr an ihre Vergangenheit. Die Erinnerungen könnten den alten Schmerz wieder erwecken und das durfte sie auf keinen Fall zulassen. Sie hatte sich verändert, sie war ein anderer Mensch geworden und ihre Haare passten nun nicht mehr zu dem Bild, das sie im Spiegel gesehen hatte. Sie hob das Messer wieder und setzte es an ihren Haaren an. Das Messer würde ohne große Schwierigkeiten durch sie hindurchfahren, sie bis zu den Schultern stutzen. Lia holte einmal tief Luft und schloss die Augen. Es musste sein.
„Und was genau willst du damit bezwecken?“
Lia ließ erschreckt das Messer fallen. Es landete leise klirrend auf dem steinernen Boden. Die Todes Tochter fuhr wütend herum. Doch bevor sie den Mund auch nur halb geöffnet hatte, schloss sie ihn wieder und starrte das Orakel mit kalter Miene an. Sie stand in der Tür, hatte sich gegen den kalten Felsen gelehnt und betrachtete sie aus großen braunen Augen. Lia unterdrückte ein leises Fluchen. War sie wirklich so unaufmerksam gewesen? Sie wusste, dass das Orakel eine Antwort auf die Frage erwartete, aber Lia war nicht gewillt, dem nachzukommen. Sie drehte sich mit einem Ruck wieder herum, hob das hinuntergefallene Messer auf und legte es zurück auf den Tisch. Hinter sich hörte sie, wie Lysia langsam näher kam und sich schließlich auf den zweiten Stuhl ihr gegenüber setzte. Sie sah Lia an, Lia sah sie an und keine von beiden verzog auch nur eine Miene. Sie saßen sich gegenüber und starrten einander mit kaltem Blick an. Die Zeit verstrich und Lia begann zu frösteln. Erst begann die Kälte sie zu stören, dann aber rief sie sich in Erinnerung, dass genau dies ihr Innerstes widerspiegelte. Sie war kalt geworden, kalt und erbarmungslos.
„Wenn du zulässt, dass es Besitz von dir ergreift, wird alles nur noch schlimmer werden!“
Lia hob verwundert den Kopf, blickte Lysia fragend entgegen.
„Was meinst du?“, krächzte sie.
Ihre Stimme war rau und klang verzweifelt. Auch sie musste sich verändert haben, hatte an jeglicher Stärke verloren und klang mehr wie die einer verlorenen Seele als die eines Menschen.
Das Orakel begann spöttisch zu grinsen.
„Du weißt genau, wovon ich rede“, erwiderte sie und lehnte sich gelassen im Stuhl zurück. Als Lia jedoch nicht antwortete, erlosch das Grinsen wieder.
„Ich sehe, dass es dich bereits erreicht hat, dass es schon in dir weilt.“
Lia knirschte wütend mit den Zähnen. „Sprich deutlicher, Lysia. Was ist in mir?“
Die Todes Tochter war sich nicht sicher, ob sie dieses Gespräch mit dem Orakel der Surah wirklich führen wollte, aber nun war es zu spät.
„Die Kälte“, flüsterte das Mädchen. „Die Kälte ist in dir und mit ihr gewinnt deine böse Seite an Macht.“
Ein leises Lachen drang aus Lias Kehle. Es sollte spöttisch klingen, aber es lagen auch Zweifel darin.
„Das ist doch albern, Lysia.“ Sie wollte noch etwas sagen, aber ihre Stimme versagte plötzlich.
Das Orakel hatte seinen stechenden Blick auf Lia gerichtet. Schon damals während ihrer ersten Begegnung, als sie kurz vor dem Kampf gegen den Schatten standen, hatte Lia diesen Blick nur schwer ertragen. Er drang tief in ihre Seele, bohrte sich in sie hinein, wie ein scharf geschliffenes Schwert in den Körper seines Opfers. Er war unangenehm und es war unglaublich schwer, ihm standzuhalten. Heute jedoch erwiderte die Todes Tochter diesen Blick mit Leichtigkeit.
„Du hast dich verändert und du hast dich nicht einmal dagegen gewehrt.“
In den Worten des Orakels schwang tiefe Trauer mit und Lia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie legte ihre Stirn in Falten und wartete darauf, dass Lysia weitersprach.
„Dein Wandel ist nun geschehen. Er hat einen Teil von dir schon besetzt. Lass nicht zu, dass er dich völlig kontrolliert. Es wird IHN nicht zurückbringen!“
„Von wem sprichst du?“
Das Orakel antwortete nicht auf diese Frage und die Todes Tochter war froh, seinen Namen nicht wieder hören zu müssen. Er erweckte unbändigen Schmerz. Das Orakel seufzte.
„Versprich mir, dass dein Wandel nicht deine Seele frisst!“
„Ich hab mich nicht gewandelt“, trotzte Lia.
„Oh doch, das hast du und es ist zwecklos, es zu leugnen! Deine roten Augen verraten dich.“
Lia schwieg. Ob Lysia schon im Türrahmen gestanden hatte, als sie sich im Handspiegel betrachtet hatte? Andererseits waren ihre blutroten Augen kaum zu übersehen. Sie stachen aus ihrem Gesicht hervor, wie zwei funkelnde Rubine inmitten eines schwarzen Kohlehaufens. Lia strich sich eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht und mit einem Mal war sie froh, dass das Orakel sie noch rechtzeitig davon abgehalten hatte, sie zu stutzen.
„Was passiert mit mir?“, flüsterte sie.
Lysia seufzte tief und blickte die Todes Tochter aus ihren großen, runden Augen mitfühlend an.
„So genau weiß ich das leider auch nicht.“
„Aber du weißt etwas?“
Das Orakel nickte. „Deine Wandlung ist eine Mischung aus der Magie deiner dunklen Seite und deinem Schmerz.“
Lia blickte ihr Gegenüber unverständlich an. „Ich verstehe nicht.“
Lysia kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Du weißt, dass du zwei Seiten Magie in dir besitzt.“
Lia nickte und das Orakel fuhr fort.
„Die eine ist die helle Seite, sind deine guten Eigenschaften, die dich mit Viridis verbinden. Die andere Seite wird von dunkler Magie beherrscht, sind die bösen Eigenschaften …“
„Rufus“, bestätigte Lia.
„Ja. Rufus beinhaltet das Gnadenlose, den puren Gefallen am Kampf. Aber darüber muss ich dir nun wirklich nichts erzählen.“ Lysia rieb ihre Handflächen nervös aneinander und für einen kurzen Augenblick glaubte Lia, dass sie nicht weitersprechen würde.
„Die Todes Tochter muss stets beide Seiten im Gleichgewicht halten. Sie muss das Gute sowie das Böse in sich kontrollieren können.“ Sie brach wieder ab und betrachtete den kalten Boden. „Nun …, nun ist es aber geschehen, dass eine Seite in dir die Oberhand gewonnen hat. Die dunkle Seite überwiegt nun in dir. Das an sich wäre nicht weiter schlimm, wenn da nicht der Schmerz wäre. Der Schmerz über deinen tragischen Verlust verleiht dem Bösen in dir mehr Macht, als du dir vorstellen kannst. Wenn du nicht Acht gibst, wird diese Macht so groß, dass sie deine Seele völlig ausfüllt. Du wärst in dir selbst verloren.“
Die letzten Worte hatte Lysia geflüstert und dabei immer bedacht, Lia nicht anzusehen. Die Todes Tochter spürte, wie ihr Herz hart gegen ihre Brust schlug. Sie wusste, dass Lysia größten Respekt, wenn nicht gar Angst vor dem verspürte, was sie ihr gerade erzählt hatte.
„Aber warum die roten Augen?“, fragte Lia. Das Orakel hob den Kopf, blickte ihr endlich wieder entgegen.
„Sie sind die Mischung, das Zeichen dafür, dass das Böse dabei ist, die Oberhand zu gewinnen. Sie zeigen den Kampf in deinem Inneren, der dabei ist, ausgefochten zu werden. Aber in erster Linie zeigen sie den Schmerz selbst.“ Sie unterbrach kurz, um sich am Handgelenk zu kratzen. „Sie zeigen, dass du jemanden verloren hast, der dir sehr viel bedeutete. Es war eine Art Band zwischen dir und Ragon.“ Bei seinem Namen zuckte Lia unwillkürlich zusammen. Ihrem Herzen war ein kräftiger Stoß versetzt worden. Beim Klang