Angriff der Keshani. Lina-Marie Lang
„Sie haben uns offenbar noch nicht bemerkt, oder wir interessieren sie nicht. Sie laufen direkt nach Süden."
„Dann schnell", sagte Callanor und fing sofort mit der Arbeit an. Obwohl sie inzwischen wirklich geübt daran waren, das Lager zügig auf- und abzubauen, beeilten sich deutlich mehr, arbeiteten dafür aber weniger sorgfältig.
Die Sonne war noch nicht am Horizont zu sehen, als sie sich wieder auf den Weg machten. Wenn die Sonne aufgegangen war, würden sie aus weiter Entfernung zu sehen sein. Nadira war sich nicht sicher, ob die Wölfe sie sehen mussten, aber trotzdem beunruhigte sie diese Tatsache.
Da Erel Trel ein Tal war, befand sich der Wald ein Stück über ihnen. Genau gesagt waren es weniger als zwei Meter. Aber diese zwei Meter waren eine Steilwand aus loser Erde. Die Pferde hatten nicht den Hauch einer Chance dort hinaufzukommen. Aber selbst zu Fuß und ohne Ausrüstung hätten sie es kaum geschafft, dieses kurze Stück zu überwinden.
Sie ritten zügig, und vom Horizont her tasteten sich die ersten Sonnenstrahlen durch das Land. Die Wölfe waren nicht zu sehen, aber deutlich zu hören. Nadira war sich ziemlich sicher, dass das Heulen noch näher gekommen war. Aber noch war es nicht so nah, dass sie in unmittelbarer Gefahr waren.
Als die Sonne sich halb über den Horizont nach oben geschoben hatte, wich der Wald zu ihrer Linken plötzlich zurück. Die braune, trockene Steppe Erel Trels ging über in saftige, grüne Wiesen. Vor ihnen lag die Mündung des Lissiri. Hier spaltete sich der gewaltige Strom in eine ganze Reihe kleinere Flüsse auf. Wie ein Fächer teilte sich der Fluss auf und erschuf so ein Stück fruchtbaren Landes am Rand des trockenen, verfluchten Erel Trel.
Kleine Wälder bedeckten einige der Landzungen, die zwischen den Flussarmen lagen. Zwischen ihnen erhielt Nadira einen ersten Blick auf Giagan. Genau gesagt, auf die massiven Stadtmauern, die von noch massiveren, rechteckigen Türmen durchbrochen wurden.
Sie durchquerten den ersten Flussarm an einer Furt. Dahinter lag ein gepflegter, kleiner Wald, der wahrscheinlich von Menschenhand angelegt worden war. Dort wuchsen nämlich fast nur Bäume, die Früchte trugen, Apfelbäume, wenn Nadira sich nicht irrte.
Sie kamen an einigen Arbeitern vorbei, die zu dieser frühen Stunde wohl auf dem Weg zu einer der Plantagen waren. Sie warnten die Männer und Frauen, aber diese wollten ihnen nicht glauben.
Schließlich stießen sie auf eine Straße, die bis zur Stadt führte. Die nächsten Flussarme würden sie auf Brücken überqueren. Dann schnitt ein ohrenbetäubendes Heulen durch den Morgen. Nadira kannte dieses Heulen bereits, es war kein Wolf, es war ein Warg.
Sie drehte sich im Sattel um, und zog sofort an den Zügeln, um ihr Pferd anhalten zu lassen. Auf einem Hügel am Übergang zwischen der Steppe und dem fruchtbaren Land der Flussmündung stand ein riesiger Wolf. Nein, kein Wolf, ein Warg.
Ein weiteres Heulen durchschnitt die Stille. Die anderen Menschen hatten inzwischen auch bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Rufe wurden laut, die auf den riesigen Wolf hinwiesen. Einige Menschen begangen zu fliehen.
Aber es war schon zu spät. Mit dem dritten Heulen des Wargs kamen die Wölfe. Wie eine gewaltige Welle schwemmten sie über den Hügel auf das Gebiet von Giagan zu. Geradewegs auf Nadira, ihre Gefährten und die schutzlosen Menschen aus der Stadt zu.
***
Brancus war der Erste, der seinem Pferd die Sporen gab. Die Erinnerung an das, was ihm in Trel passiert war, musste noch sehr gegenwärtig sein. Deshalb war der Anblick der gewaltigen Welle von schwarzen, pelzigen Körpern, die sich noch immer über den Hügel ergossen, schlimm genug, um in Panik auszubrechen.
Nadira und die anderen hatten schon eine ganze Gruppe einfache Leute hinter sich gelassen. Sie versuchten der Flut von Wölfen zu entkommen, aber sie hatten keine Chance. Wie eine Sturzflut brachen die Tiere über die fliehenden Menschen her. Ihre Todesschreie wurden zum Glück vom Heulen der Wölfe verschluckt.
„Die Menschen hier haben keine Chance", rief Nadira. „Wir müssen ihnen helfen!"
„Aber wie?", rief Darec. „Selbst eine ganze Einheit der Wache könnte sie nicht aufhalten."
„Ich will hier weg", rief Aurel.
„Reitet hinter Brancus her. Ich versuche sie ein wenig aufzuhalten", rief Nadira. Darec zögerte, er würde nicht so ohne Weiteres von ihrer Seite weichen. „Los, verschwinde", rief sie.
Nadira hatte keine Zeit mehr darauf zu achten, ob ihre Anweisungen ausgeführt wurden. Die Wölfe waren nicht mehr weit entfernt und sie musste anfangen, sie abzuwehren. Als erstes zog sie ihren Fokusstein, der nicht mehr im Diadem befestigt war, aus der Satteltasche. Sie hatte ihn an einem Lederriemen festgebunden, so konnte sie ihn sich um den Hals hängen.
Dann griff Nadira nach ihrem Ashara und fokussierte die Kraft durch den Stein. So schickte sie Schlag um Schlag nach der Welle aus schwarzen Leibern. Sie musste nicht zielen, denn die Masse der Wölfe war so groß, dass sie sie gar nicht verfehlen konnte.
Leider waren die Wölfe nicht wie die Guul. Sie fielen nicht über ihre verwundeten Kameraden her. Ihre Schläge zeigten kaum Wirkung. Sie konnte mit einem Schlag nur zwei oder drei Tiere treffen, die anderen aber ließen sich davon nicht aufhalten. Noch immer rasten sie wie eine unaufhaltsame Flutwelle auf sie zu.
Hilflos musste Nadira dabei zusehen, wie noch zwei Menschen unter der Flut aus schwarzen Leibern verschwanden. Die Front der Welle aus Raubtieren war zu breit, um sie mit einem Energiefeld abzuwehren. Alleine wäre sie nicht in der Lage dazu. Aber selbst wenn Brancus nicht geflohen wäre, hätte sie es nicht geschafft. Nadira schätze, dass sie mindestens fünf Dynari gebraucht hätten, um ein Energiefeld zu schaffen, das sowohl stark genug als auch groß genug war.
Die letzten Menschen hatten inzwischen den Wald hinter sich gelassen, die Wölfe würden den Wald jeden Moment erreichen. Nadira blieb nur noch eine Chance. Sie änderte ihre Taktik. Statt Schläge aus reiner Energie zu führen, ließ sie ihr Ashara zu einem brodelnden Feuer auflodern. Außerdem sandte sie das Feuer nicht nur auf die Wölfe, sondern vor allem in die Bäume. Es dauerte nicht lange, bis alle Bäume in Nadiras Nähe brannten, aber das reichte noch nicht.
Sie schickte weitere Feuerblitze durch den Wald, entzündete auch die Bäume am Waldrand und die, die sich weiter weg befanden. Schon nach kurzer Zeit stand der ganze Wald in Flammen. Die Flammen würde die gesamte Ernte vernichten, aber im Moment ging es ums nackte Überleben.
Ein Problem hatte Nadira aber nicht bedacht. Sie befand sich plötzlich Mitten in einem brennenden Wald. Die Luft füllte sich mit Rauch, Nadira konnte kaum noch atmen und auch kaum etwas sehen. Aber sie hatte noch gesehen, wie die Welle aus schwarzen Leibern ins Stocken gekommen war. Ihr Plan war aufgegangen. Aber sie hatte nicht etwa gewonnen, sie hatte den Menschen nur etwas Zeit verschafft.
Nadira saß noch immer auf ihrem Pferd. Wahrscheinlich rettete ihr das das Leben. Nicht sie war es, die aus dem dichten Rauch herausfand, sondern einzig und allein ihr Pferd. Zunächst hatte Nadira gar nicht bemerkt, dass das Pferd sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Sie war viel zu sehr auf ihr Ashara konzentriert gewesen. Aber als sie nichts mehr sehen konnte und kaum noch Luft bekam, wurde ihr klar, in welchen Schwierigkeiten sie steckte.
Dann war sie plötzlich aus dem Wald heraus. Nadira keuchte und hustete, ihre Augen brannten. Obwohl sie nicht mehr im Rauch war, konnte sie kaum etwas sehen. Neben sich sah sie eine Bewegung. Sie machte sich bereit zuzuschlagen.
„Geht es Euch gut?", fragte eine vertraute Stimme.
„Lledar?"
„Ja", sagte er.
„Was machst du hier?" Er hatte ihre Anweisungen also missachtet. Wieso war er nicht bei Brancus? Seine Aufgabe war es auf Brancus aufzupassen. Doch Lledar kam nicht dazu zu antworten. Ein riesiger Schatten schoss plötzlich auf sie zu. Nadira stieß einen Warnschrei aus, aber es war schon zu spät. Der Schatten prallte gegen Lledar und riss ihn vom Pferd. Der Schwung des Angreifers war so groß, dass er gegen Nadira Pferd prallte, es fast umwarf und Nadira aus dem Sattel schleuderte.
Das Pferd gab einen schrillen