Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben
ansteht. Obwohl der Schulleiter Iain Raven hauptsächlich Geschichte unterrichtet, übernimmt diese Aufgabe in den unteren Jahrgängen Professorin Jean Jorvik. Ihr Name passt äußerst gut zu ihrem Lieblingsthema: die Ausbreitung der Wikinger in England und Irland und deren Einfluss auf die anschließende Entwicklung in diesen Ländern. Jorvik war nicht nur die Bezeichnung für ihr Königreich in Nordengland, sondern auch für deren Hauptstadt. Diese Namensgleichheit hat sicher den Anstoß für die Vorliebe der Professorin gegeben, vermutet Anna und lauscht der mitreißenden Darstellung der Ereignisse, die im neunten Jahrhundert mit dem Einfall der Dänen und Norweger im Norden Englands begannen. Egal, was die Ursache war, die bildreiche Sprache fesselt alle Schüler. Auch wenn Anna wie stets den Worten der Professorin lauscht, kann sie es kaum erwarten, zum Picknick mit Robin zu kommen. Sie brennt darauf, ihm von ihren Erlebnissen in der Anderswelt zu berichten. Wie wird er wohl reagieren?
Nach einer kleinen Unterbrechung für eine Mittagspause steht Sport auf dem Plan, dann werden die Schüler in den Nachmittag und zur freien Gestaltung entsprechend ihren Neigungen entlassen. Anna stürmt als erste aus der Sporthalle und eilt durch den Park. Für das Picknick hat sie vom Frühstücksbuffet eine Banane und einen Apfel mitgenommen. Robin will etwas zu trinken mitbringen, vermutlich Rhabarber-Apfelsaft. Das ist sein Lieblingsgetränk, wie Anna inzwischen weiß.
Auf dem Weg durch die verschlungenen Parkwege werden ihre Schritte plötzlich langsamer, als ihr Blick auf eine Statue fällt. Sie ruft ein immer stärkeres Gefühl von Unwohlsein hervor, während sie sich ihr langsam nähert. Sollte es möglich sein? Die Statur des dargestellten Mannes erinnert sie vage an jemanden. Sie ist schon öfter daran vorbeigelaufen, warum zögert sie also heute und wagt es kaum, der Figur ins Antlitz zu schauen? Als sie es dann doch wagt, bestätigt sich ihre Befürchtung. Das Gesicht hat große Ähnlichkeit mit dem von Seid Greif! Und der dargestellte Mann trägt eine Brille, die der Professor Ravens ähnelt, und somit auch der, die der Fremde beim Wiedersehensfest der Elfen für Saphira getragen hatte. Eigentlich ist die Sehhilfe mit ihren runden Gläsern in dem Nickelgestell nicht außergewöhnlich, wäre da nicht der Verbindungssteg zwischen ihnen. Er bildet ein verziertes »A«, was leicht übersehen werden kann. Nur weil sich Anna gestern Nacht darüber mit Iain Raven unterhalten hatte, weiß sie, das »A« steht für »Aperio!«, dem Zauberspruch für etwas öffnen, offenbaren oder aufdecken.
Ein leichter Schauer läuft dem Mädchen über den Rücken. Es bleibt stehen und betrachtet das Gesicht der Statue. Anna schüttelt sich, schließt die Augen und öffnet sie langsam wieder. Es gibt keinen Zweifel, die große Ähnlichkeit deutet darauf hin, dass das Vorbild für diese Figur ein enger Verwandter des Fremden in der Anderswelt sein muss. Neugierig geworden schaut sie auf das Schild, auf dem ein Name angegeben ist.
Augustus Back
Gartengestalter und Schöpfer der Parkanlage.
»Ich muss dringend Iain Raven über diese Entdeckung informieren. Wenn ich mich beeile, wird Robin nicht zu lange auf mich warten müssen.« Anna wendet sich von dem Denkmal ab und rennt in die Richtung, die zum Haus des Professors führt. Ihr begegnende Schüler beachtet sie nicht besonders, weshalb sie erstaunt stehen bleibt, als sie angesprochen wird.
»Hallo Anna, wohin so eilig? Ist etwas passiert, brauchst du Hilfe?« Als sie die Schülerin anschaut, weiß sie zuerst nicht, wer das ist. Dann fällt es ihr ein.
»Nein, nein. Es ist alles ok, Britta. Ich muss mich lediglich beeilen, um nicht zu spät zu einem Treffen zu kommen.« Sie lächelt die ältere Schülerin an, die sie aus dem Schachclub kennt und hastet weiter. Wenige Minuten später sieht sie das Haus des Schulleiters. Als sie den Klopfer an der Tür betätigt und keine Reaktion erfolgt, wundert sie sich nur kurz. Ihr fällt ein, dass Iain Raven um diese Zeit vermutlich in seinem Büro im Internatsgebäude und nicht in dem Haus zu finden sein wird. Sie überlegt, ob sie dorthin gehen soll, wodurch sie unweigerlich zu spät zum Picknick kommt. Ob Robin dafür Verständnis zeigen wird, oder soll sie den Professor später informieren? Ist diese große Eile überhaupt notwendig? Sie steht vor dem eingezäunten Hühnerhof und betrachtet grübelnd das bunte Federvieh.
»Hallo Anna«, vernimmt sie plötzlich in ihrem Kopf, während ein Krächzen aus dem Geäst einer großen Linde zu ihr herüberschallt. »Was ist los mit dir? Hast du einen Geist gesehen?« Das Mädchen sucht mit ihren Blicken nach dem schwarzen Vogel und entdeckt ihn schließlich weit oben in der Baumkrone.
»Das könnte man fast sagen«, sendet sie und hofft, dass Ainoa sie hören kann. Sie weiß, dass sie hier über keine magischen Kräfte verfügt, doch ihre Verbindung zu der Elfe der Anderswelt, die in Annas Welt die Gestalt eines Kolkraben annimmt, soll laut Katherin für immer bestehen. Das hat die Elfenkönigin jedenfalls gesagt, als Anna zum ersten Mal in der Anderswelt war und dort von Ainoa mit Magie Lebensenergie übertragen bekommen hatte. Das Mädchen blickt nach oben und lächelt, als der große Vogel von dort zu ihr heruntersegelt. Im nächsten Moment hockt er auf ihrer Schulter und reibt seinen Kopf an ihrem Ohr.
»Hey, das kitzelt! Hör schon auf!« Obwohl das unfreundlich klingt, meint das Mädchen das nicht so. Das weiß der Kolkrabe offenbar, denn er hört nicht auf und kollert zusätzlich, was wie das Schnurren einer Katze wirkt.
»Was meinst du mit: »fast«, hast du eine Erscheinung gehabt?«
»So kann man es auch nennen. Du erinnerst dich sicher an diesen seltsamen Mann, der sich Seid Greif nannte. Du sagtest doch, er käme dir nicht nur verdächtig vor, sondern meintest auch, er müsse ein Mensch sein. –¬¬ Hier im Park gibt es ein Denkmal, das offenbar einen Verwandten von ihm darstellt!«
»Meinst du wirklich? Er hatte etwas Berechnendes an sich und seine Augen blickten eiskalt. Du hast ihm weder deinen richtigen noch deinen Geheimnamen genannt, weil ich dich warnte. – Zeig mir die Statue.« Sofort läuft Anna den Weg dorthin zurück. Dort angekommen klappert der Kolkrabe mit den Augendeckeln, legt den Kopf schräg und krächzt. »Es stimmt, die Figur könnte ein Duplikat von ihm sein. Was mag das bedeuten?«
»Ich wollte Professor Raven, du weißt schon, Auguste de Enaid, auf diese Statue hinweisen. Vielleicht hilft ihm das bei der Suche nach Informationen über Seid Greif. Ainoa, flieg bitte in die Luft hinauf. Ich höre Schüler näherkommen.«
Der Kolkrabe folgt der Aufforderung sofort.
»Ich warte in der Linde auf Neuigkeiten von dir«, sendet der schwarze Vogel dem Mädchen. Das nickt mehreren Schülerinnen aus ihrem Jahrgang zu, die über irgendetwas kichern. Sollten sie den von Annas Schulter wegfliegenden Raben bemerkt haben? Sie drehen sich immer wieder nach ihr um und tuscheln miteinander, selbst als sie bereits weiter fort sind. Anna bekommt davon nichts mit, da sie sich entschieden hat, zuerst Iain Raven von ihrer Beobachtung zu informieren.
Kurz darauf benutzt sie den Hintereingang des Internats. Ihr Atem geht stoßweise. In dem kühlen Flur begegnen ihr weitere Schüler. Sie achtet aber weder auf sie noch auf die Bilder an den Wänden. Sie eilt bis zur Vorderseite des großen Gebäudes und klopft an eine alte Eichentür. Auf einem Schild an der Tür steht lediglich »Schulleiter«. Sie wartet nicht, ob sie ein »Herein« hören kann. Das ist bei den dicken Türen nicht zu erwarten. Sie öffnet und blickt in einen verwaisten Vorraum. Nach dem Schließen des Eingangs durchquert sie das Zimmer und klopft an die nächste Tür.
Ein Picknick
Anna bemerkt keine Reaktion auf ihr Klopfen. War es vielleicht zu zaghaft, so dass es das Gespräch nicht übertönen konnte, das von innen zu ihr herausdringt? Die Schülerin zögert, soll sie heftiger gegen die Tür schlagen oder einfach eintreten? Die Stimmen klingen nur gedämpft durch die dicke Eichentür. Es ist unmöglich zu sagen, mit wem sich Professor Raven unterhält. Kurz entschlossen hämmert Anna mit der geballten Faust kräftig gegen das Türblatt. Sie fährt erschrocken zusammen, da das Klopfen lauter als erwartet ausfällt. Ihr rauschen die Ohren noch vom Laufen, so dass sie das sofortige Verstummen der Stimmen nicht mitbekommt.
Das: »Herein!«, vernimmt sie dagegen, da es laut und deutlich erklingt. Sie drückt die alte Messingklinke hinunter und öffnet die nach innen gehende