Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben

Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches - Norbert Wibben


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noch einen langen und steinigen Weg vor uns haben, wenn wir so ruhmreich wie ihre Schützlinge werden wollen. – Sie sagte, falls wir Hilfe benötigen, wäre sie gern bereit, uns einige Trainingsstunden zu gewähren. Das klang so überheblich, dass ich nicht anders konnte, als ihr quasi den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen. Ich erwiderte, dass es Talente in unserem Team gibt, die zwar noch keine gekürten Champions, aber jedem Vergleich gewachsen sind.« Sie schlägt kurz ihre Augen nieder. Weshalb sie derart gereizt auf das überhebliche Gebaren ihrer Bekannten reagierte, ist ihr im Nachhinein schleierhaft. Als sie aufblickt, sucht sie den Blickkontakt mit Alexander, Robin und vor allem Anna.

      »Das hast du richtig gemacht, Morwenna!«, bestätigt Anna sofort. »Überheblichkeit kann ich genauso wenig ausstehen.« Bei diesen Worten schaut sie Alexander an, der kurz schuldbewusst wirkt. Beide denken an die Situation, als Anna vor Wochen den Jungen im Speisesaal zu einem Match aufforderte. Seine damalige Antwort hat sich in ihr Gedächtnis eingegraben.

      »Ich trete nicht gegen Babys an! Wenn ich auf deine Forderung eingehe, ist das Spiel schneller beendet, als es dauert, die Figuren aufzustellen. Ich will vom Gegner wenigstens etwas lernen, wenn ich schon Zeit opfere. Wenn du verlierst, und das steht für mich unumstößlich fest, wirst du vermutlich zu flennen beginnen. Wie kann das wohl meine Fähigkeiten weiterbringen?«

      »Du weißt, dass ich mittlerweile nicht mehr so denke!«, antwortet Alexander auf ihre nicht ausgesprochenen Gedanken. »Vielleicht hätte ich damals tatsächlich verloren, so wie heute gegen Finn. Wer kann das schon wissen.« Beide grinsen sich etwas verlegen an. In der Zwischenzeit sind sie bereits mehrfach gegeneinander angetreten, doch bisher hat es zu keinem Sieg für Anna gereicht, lediglich zu einigen Unentschieden.

      »Zurück zu unserem Wettkampf!« Morwenna blickt eindringlich nacheinander alle Schüler an. »Ich möchte, dass ihr in jeder freien Minute in wechselnden Paarungen übt. Das muss nicht unbedingt in der Bibliothek sein, auch wenn ich sie von nun an täglich für euch bis abends gegen zehn offenhalte. Falls jemand für die Übungen ausfällt, springe ich ersatzweise ein. Beim Wettkampf ist das allerdings unmöglich. Je Altersstufe wird mindestens eine Partie gespielt werden, wünschenswert sind jedoch zwei. Mit entsprechender Zustimmung sind Überschneidungen der Altersstufen und ein Mehrfachantreten einzelner Spieler möglich, doch darauf können wir uns nicht verlassen. Innocent wird dem höchstens zustimmen, wenn auf unserer Seite jüngere gegen ältere Schüler auf ihrer Seite antreten, nicht umgekehrt. Sie will sich keinesfalls blamieren und wird ihre besten Spieler teilnehmen lassen. Ich fürchte, sie hat eine größere Auswahl als wir, das muss unsere Motivation ausgleichen. Außer den Alterspaarungen gibt es drei Zusatzspiele, deren Teilnehmer ausgelost werden. Das wurde von Innocent mit huldvoller Miene vorgeschlagen, damit wir vielleicht doch einen Sieg verbuchen können. – Ich HASSE diese Überheblichkeit!« Die Augen aller Schüler ruhen auf dem Gesicht der Professorin, deren Gefühlsausbruch so gar nicht zu ihr passt.

      »Gibt es einen Preis, um den wir kämpfen?« Finns Frage unterbricht die Stille. Er blickt mit rotem Gesicht erst in die Runde und dann zurück zu Morwenna. »In jedem Wettkampf wird etwas ausgelobt, dass den Ehrgeiz der einzelnen Spieler antreiben soll. Bekommen wir einen Pokal, eine Urkunde – oder nur einen herablassenden Händedruck?«

      »Gut, dass du danach fragst. Wir kämpfen nicht nur um die Ehre, auch wenn das für mich bereits ausreichen würde, diese hochnäsigen Universitätsstädter …« Sie hüstelt verlegen und fährt dann ruhiger fort. »Das Team aus dem Internat hat im letzten Jahr den Siegerpokal der Mannschaftswertung bei den nationalen Schachmeisterschaften gewonnen. Sollten wir die Hälfte der Spiele gewinnen, wobei die unentschieden gewerteten nicht berücksichtigt werden, bekommen wir diese Trophäe für drei Monate ausgeliehen. Außerdem will sich Innocent dann für unsere Teilnahme bei den Meisterschaften zum Ende des Jahres einsetzen, obwohl die Bewerbungsfristen dafür bereits abgelaufen sind. – Ob sie das tatsächlich machen wird, ist abzuwarten. Schließlich würde dadurch die Aussicht ihrer Mannschaft sinken, den Pokal erneut zu gewinnen.«

      Der große Gong erklingt. Sein dunkler Ton dringt in alle Räume des alten Gebäudes und ruft zum Abendessen in den Speisesaal. Die wenigen Bibliotheksbesucher klappen die Bücher zu und bringen sie zu Professor Mulham, bevor sie den Leseraum verlassen. Die im abgegrenzten Bereich bisher in ihre Schachpartien vertieften Schüler blicken erwartungsvoll zu Morwenna. Hat sie erneut eine Ausnahmeregelung fürs Abendessen vereinbart, so dass sie weiterspielen können? Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und fordert die Spieler auf, sie zu begleiten.

      »Es ist den Köchinnen und ihren Helfern nicht zuzumuten, für uns jeden Abend Zusatzarbeiten nach der offiziellen Essenszeit zu leisten. Wir unterbrechen die Spiele und treffen uns in einer Stunde erneut. Also beeilt euch!« In diesem Moment erklingt der Gong zum zweiten Mal. Alle erheben sich und drängen aus der Bibliothek in den Flur, um rechtzeitig den Saal zu erreichen. Sie wissen, wer beim dritten Ton nicht dort ist, bekommt kein Essen. Anna und Robin warten, bis die Professorin die Tür verriegelt hat.

      »Kann ich etwas für euch tun, ihr Lieben?« Ihr Blick ruht fragend auf deren Gesichtern. Der Junge weiß zwar, was Anna brennend interessiert, er wagt es jedoch nicht, anzufangen. Diese wiederum ist unsicher, wie sie beginnen soll. Sie hat ihren rechten Fuß mit den Zehenspitzen auf den Boden gestellt und die Hacke weist nach oben. Anna dreht ihn hin und her, wie sie es oft beim Überlegen macht. Morwenna fragt nach. »Ist es so schwierig? Ich reiß euch schon nicht den Kopf ab. Lasst uns Richtung Speisesaal gehen, damit wir dort noch etwas bekommen. – Moment, ihr wollt mir jetzt aber keine Absage für den Vergleichswettkampf erteilen? Ich rechne fest mit euch!« Die Professorin bleibt nach den ersten Schritten erschrocken stehen. Ihr tiefdunkler, blauer Umhang, der im zügigen Gehen hinter ihr her wehte, schwingt noch etwas nach.

      »Nein, natürlich nicht!« Beide Schüler protestieren und setzen sich zusammen mit ihr wieder in Bewegung. Dann beginnt Anna, wobei sie verlegen seitlich zu Morwenna schaut.

      »Ich habe Robin von der Anderswelt und meinen Erlebnissen dort erzählt.« Der Schulleiter Iain Raven hat ihr dringend davon abgeraten. Er befürchtet, gefährliche Wesen könnten umso leichter die Übergänge zwischen den Welten nutzen, je mehr Menschen des Diesseits darüber wissen und sich leichtfertig über diese Kreaturen unterhalten. Den Troylingen ist der Wechsel hierher einmal fast gelungen, als er selbst etwas unachtsam den Übergang zwischen den Welten nutzte.

      »Du hast WAS?« Morwenna bleibt erneut stehen und starrt ungläubig auf Anna.

      »Es war nicht zu vermeiden. Wir sind schließlich Freunde und ich wollte ihn nicht anlügen!«

      »Aber …! Hm. Du hast selbstverständlich richtig gehandelt, ihn nicht zu belügen, aber musstest du ihm dann gleich alles erzählen?«

      Erleichtert über die unerwartet milde Reaktion entgegnet Anna mutiger: »Wo hätte ich mit den Erläuterungen aufhören können? Wenn Robin mich nicht für durchgedreht halten soll, MUSS ich doch alles berichten. Nur in der Gesamtheit ist die Wahrheit erkennbar!«

      »Hm. Da ist schon was dran. – Warum erzählst du mir das jetzt? Hat Ainoa dich erneut um Hilfe gebeten? Ist euch dieser Seid Greif womöglich hierher gefolgt?« Das Gesicht der Professorin wechselt von Erstaunen zu einem besorgten Ausdruck. Eine fahle Blässe unterstreicht ihre Gefühle. »In dem Fall sollten wir besser nicht zum Essen, sondern sofort zu Auguste de Enaid gehen.« An Robin gewandt erklärt sie: »Das ist der Geheimname von unserem Schulleiter Iain Raven, den er in der Anderswelt nutzt.«

      »Das ist mir bekannt«, entgegnet dieser.

      »Was? Woher kannst du … Ach, ich vergaß, Anna hat dir ja alles erzählt.«

      Die Schülerin stellt sofort klar, weshalb sie die Professorin sprechen will. »Im Moment ist mir nichts von einer Bedrohung durch die Cythraul bekannt. Ich möchte lediglich wissen, wie der Stand der Recherchen zu Seid Greif ist. Konntest du ermitteln, ob er ein Verwandter von Augustus Back ist, von dem ein Denkmal im Park steht? Deswegen bist du doch vermutlich in der Universitätsstadt gewesen, oder?«

      »Das


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