Anna Q und das Geheimnis des Haselbusches. Norbert Wibben
sie sagen: Schau her und fasse Mut, der Frühling ist gekommen und vertreibt die kalte Winterzeit.
Das Mädchen schüttelt den Kopf. Was sollen diese Gedanken? Nur weil die Sonne die Kälte des Winters vertreibt und die Büsche neu erblühen lässt, wird das Zusammentreffen eines Kindes mit einem gefährlichen Eisdrachen nicht ebenso positiv verlaufen. Um das zu überstehen, hilft nur schnellste Flucht!
Gleich darauf schrickt Anna zusammen. Ein neuer hoher, schriller Ton zerreißt die morgendliche Stille. Ihre Augen werden zu schmalen Schlitzen und suchen trotz Gegenlicht nach der Kreatur, die voller Selbstvertrauen ihre Herausforderung laut kundtut. Das Mädchen spürt ein Kribbeln auf der Kopfhaut. Hat es zu lange gezögert und dadurch wertvolle Zeit verspielt? Jetzt sind aus dem einen drei Punkte am Himmel geworden, die scheinbar direkt aus der Sonne kommend, heranrasen. Das gibt den Ausschlag. Gegen einen Drachen könnte Anna mit viel Glück einen tödlichen Schuss platzieren, bei dreien wäre bereits der Versuch ihr Todesurteil.
Mit grimmigem Gesichtsausdruck rennt sie den Berghang hinab. Auch wenn sie bisher kein Versteck entdeckt hat, heißt das nicht, dass sie keines finden wird. Sie weicht Unebenheiten auf dem Pfad aus, macht einen kleinen Satz zur Seite, rutscht kurz aus, fängt sich wieder und weiter geht es. Wieso kommt ihr plötzlich in den Kopf, dass sie als Rabe oder Waldkauz schneller vorankommen würde? Wie sollte sie deren Gestalt annehmen können?
Ihre Flucht führt im Zickzack vom steilen Berggipfel hinab. Erneut schrillen Schreie durch die Luft. Sie klingen so laut, dass die Wesen, die sie ausstoßen, fast direkt über dem Mädchen sein müssen. Das Herz klopft heftig, und eisige Schauer rieseln über seinen Rücken. Am Himmel nach den Kreaturen zu suchen, traut es sich nicht. Ein Stolpern über die vielen Unebenheiten des Bodens wäre die sichere Folge. Jetzt ist eine schnelle Flucht vor diesen Ungeheuern wichtiger.
Anna erschauert. Wie konnte sie nur so töricht sein? Hatte sie tatsächlich auf einer Bergkuppe übernachtet und dort unbedacht ein Feuer entzündet? Das musste in der Nacht weithin sichtbar gewesen sein und hat vermutlich dadurch die Feinde herbeigelockt! Anna weicht ersten, verkrüppelten Büschen aus, die an einigen Stellen sogar den Pfad überwuchern. Sie zuckt unwillkürlich bei dem nächsten lauten Schrei zusammen, duckt sich und zieht die Schultern hoch. Das ist bei diesem halsbrecherischen Lauf eine unbedachte Bewegung. Prompt stolpert sie über einen kleinen Busch, den sie so nicht überspringen kann. Ihr Versuch, den Sturz abzufangen, misslingt völlig. Mit rudernden Armen schlägt sie der Länge nach hin. Mit dem Kopf voraus rutscht Anna über Flechten und Geröll. In der nächsten Kehre des kaum sichtbaren Pfades schießt sie wie ein Geschoss geradeaus. Einen kurzen Moment fliegt sie durch die Luft, bevor sie in einen hohen Stechginsterbusch kracht, der ihr Gesicht zerkratzt.
Die Rutschpartie wird dadurch abrupt gestoppt. Ächzend windet sich das Mädchen aus dem Gebüsch. Angstvoll richten sich seine Augen zum Himmel und suchen nach den Drachen. Das Rauschen großer Flughäute und erneutes Kreischen ziehen den Blick unweigerlich zur Bergkuppe. Drei riesige Eisdrachen umzingeln sie und den Höhleneingang. Im nächsten Augenblick zischen von ihnen geschleuderte Eisspeere in den Eingang. Eines dieser Wurfgeschosse, das eine besonders widerwärtig aussehende, gezackte Spitze hat, wird zielsicher hineingejagt, wo letzte Wärmespuren vom erloschenen Feuer zu ahnen sein müssen. Sofort zischt es und weißer Wasserdampf dringt aus der Höhle heraus. Sollte die Feuerstelle derart heiß gewesen sein? Das wäre gut, weil dadurch die dagegen geringere Temperatur des Mädchens und die von ihm hinterlassene Spur verdeckt werden. Eisdrachen können Wärme besser wahrnehmen als Hunde die Witterung eines Kaninchens.
Da dreht einer der Lindwürmer seinen weißen Kopf in die Richtung, in die das Mädchen geflüchtet ist. Sollte er ihre Fährte hangabwärts wahrnehmen? Sein schriller Schrei durchschneidet die kühle Morgenluft. Er klingt wie zerberstendes Eis. Der Drache stößt weißen Atem aus, der die Bergflanke mit Schneekristallen überzieht. Anna überlegt, ob sie sich besser still verhalten oder aufspringen und weiterrennen soll. Die Köpfe der beiden anderen rucken herum. Eisblaue Augen, mit darin loderndem, silbernem Feuer, blicken starr. Plötzlich meint das Mädchen, von ihnen gesehen zu werden. Es will aufspringen und fortlaufen, doch irgendetwas lähmt die Beine. Sie versagen einfach ihren Dienst! Die Drachen kreischen erneut und schwingen sich in die Luft. Sie breiten ihre Flughäute aus und segeln schnell heran. Ein Schwall weißer Luft umhüllt Anna. Sie kneift die Augen zu, um die herannahende Gefahr auszusperren.
Plötzlich stutzt sie. Ob es an der Kälte des eisigen Atems liegen mag, dass das Brennen des zerkratzten Gesichts und der Arme jetzt unerwartet nachlässt?
Anna streckt die Hände vor sich und öffnet mit Anstrengung ihre Augen. Sie richtet sich auf – und befindet sich im Bett! Das Herz klopft wild und ein gieriger Atemzug beweist, dass sie unwillkürlich die Luft angehalten hat. Wollte sie dem tödlichen Atem der Eisdrachen widerstehen, damit die Kälte nicht tief in ihre Lunge eindringt? Auch wenn das unlogisch ist, wäre es eine mögliche Erklärung.
»Das war nur ein Traum!«, versucht sich das Mädchen zu beruhigen. »Ich befinde mich in meinem Zimmer im Internat und nicht in der Anderswelt! Dort gibt es Eisdrachen, aber hier nicht!« Sofort wandern ihre Gedanken zu dem Gespräch mit den Professoren Raven und Mulham zurück. Wenn es den Cythraul gelingen würde, die Übergänge in diese Welt zu nutzen, dann wären ihnen die Menschen wehrlos ausgeliefert. Gegen sie könnten nur magische Kräfte mit Erfolg eingesetzt werden, und die besitzt hier nur ein Mensch, soweit das Anna bekannt ist. Deshalb drängt nicht nur Iain Raven darauf, die Verbindung zwischen Seid Greif und Augustus Back zu klären. Er befürchtet wie Morwenna Mulham, Ainoa und Anna, dass dieser Mann die Übergänge für sich nutzen könnte.
Anna lässt sich wieder aufs Bett sinken. Ihre Gedanken wenden sich in eine andere Richtung. »Wie mag es wohl Vater bei der Expedition am Südpol gehen? Vor dem Einschlafen habe ich noch an ihn gedacht, ob ich deshalb von Eisdrachen träumte?« Sie sieht sein liebes Gesicht vor sich und bemerkt ein Lächeln. Ein ähnliches Bild von sich hat er vor zwei Wochen geschickt. Er trägt eine Wollmütze und grinst in die Kamera, wobei feine Eiskristalle auf kurzen Bartstoppeln in den Strahlen einer tief stehenden Sonne glitzern. Das Foto hängt über ihrem Schreibtisch …
Ihre Gedanken wandern in eine andere Richtung. Vor Wochen hatte sie nach dem Abenteuer mit den Troylingen ihren Elfenbogen und einen mit Pfeilen gefüllten Köcher in ihren Schrank gestellt. Beide wollte sie wieder in die Anderswelt mitnehmen, um sie den Elfen zurückzugeben, da sie nicht gut damit umzugehen verstand. Das hat sie damals in der Hitze der Ereignisse jedoch vergessen. Nach der Rückkehr aus der Anderswelt fiel ihr der Bogen wieder in die Hände. Da zu dem Zeitpunkt Bogenschießen im Sportunterricht angeboten wurde, hatte sie beschlossen, ihre Fähigkeiten mit dieser Waffe zu verbessern. Sie nutzen im Unterricht zwar Sportgeräte, die einfacher als die hochkomplexen Elfenbogen gestaltet sind, trotzdem wurde Anna schnell zu einer der besten Schützen. Anna ist mittlerweile froh, sich darin geübt zu haben, da sie bei einem neuerlichen Besuch der Anderswelt diese Waffe zu ihrem Schutz vor den Drachen mitzunehmen gedenkt. Ob sie damit die durch Schuppen geschützte Lederhaut eines Eisdrachen durchdringen könnte, weiß sie nicht. Trotzdem fühlt sie sich dann nicht so wehrlos.
Sie grübelt über ihren Traum nach. Es ist nicht das erste Mal, dass sie die Sequenz fast in der gleichen Situation sieht. Der wesentliche Unterschied ist die dort herrschende Jahreszeit. Bisher gab es Schnee auf der Bergkuppe, heute war es offenbar Frühling. Was hat das zu bedeuten?
Annas Blick wandert zu ihrem Schreibtisch, doch im Dunkeln der Nacht kann sie dort fast nichts erkennen. Lediglich ein feines, bläuliches Leuchten scheint auf der Stelle zu liegen, wo die Bilder von Vater und Mutter an der Wand hängen. Annas Blick wandert zum Fenster. Nicht einmal der Mond ist zu sehen, woher kommt dann der Schimmer? Ein dunkler Schatten huscht vorbei und ein lautes Krächzen schallt herein. Sollte das Ainoa sein? Die würde doch sicher mittels Gedankenverbindung zu ihr sprechen.
»Richtig, ich bin's! Ich komme zu dir hinein.« Der Kolkrabe erscheint im gleichen Augenblick. Eine Lichtkugel schwebt sofort unter die Zimmerdecke und taucht den Raum in ein weiches Licht. Das Geräusch der schlagenden Flügel verstummt. Der schwarze Vogel hockt auf der Lehne des Schreibtischstuhls.
»Ainoa. Ist etwas passiert, oder weshalb kommst du mitten in der Nacht zu mir?« Anna versucht, ihre aufkommende Angst durch Logik