Himmelsvolk. Waldemar Bonsels
Bald darauf stieg die Morgensonne am Frühlingshimmel empor, und die Anemonen wiegten sich
sanft im Wind, der kühl und unsichtbar, nach Windesart, aus den Zweigen der großen Linde
niederzusinken schien. Die Gräser wurden wach, fröstelten ein wenig unter den winzigen Tauperlen,
die zu vielen Tausenden an ihnen hingen, und rasch verbreitete sich die Nachricht unter den
Erwachenden, daß es ein heller Sonnentag werden sollte.
Man muß nun wohl bedenken, daß ein Tag den Pflanzen viel mehr bedeutet als den Menschen, denn
das Leben der meisten ist kürzer bemessen, als das der großen lebendigen Geschöpfe, es gibt unter
ihnen sogar viele, die nur einen Tag lang blühen, sie erwachen in der Frühe, entfalten ihr
Blumenangesicht im heraufsteigenden Licht der Sonne, der Mittag des Tages ist der Mittag ihres
Daseins, und die hereinbrechende Nacht ist das Ende ihres Frühlings. So erscheint den kleinen
Pflanzen, auch denen, welche länger leben, die Dauer eines Tages um vieles wichtiger und
bedeutungsvoller, als den Tieren oder uns Menschen. Ihre allerschönste Zeit sind die Tage, in
welchen sie blühen.
Man merkte gleich, wie wichtig so ein warmer Frühlingstag ist, an der Art, wie glücklich eine ältere
Gänseblume sich langsam gegen das Licht aufrichtete und zurückgelehnt den roten Schein aufnahm.
Sie hatte überwintert und war sehr erfahren. Es sah aus, als tränke ein durstiges Wesen in vollen
Zügen Wasser an einer Quelle. Dann rief sie den erwachenden kleineren Blumen, die rund um sie her
standen und alle von ihrer Art waren, den Morgengruß der Blumen zu:
Alle, die wir Blumen sind,bitten Gottes Segen,daß uns Sonne, Tau und Windheute finden mögen.
Goldne Sonne, mach uns weitdeinen Strahlen offen,wie auf deine Herrlichkeitalle Wesen hoffen
Himmelswunder, kühler Wind,Tau aus deinen Schwingen,wiege unser Leben lind,laß den Tag
gelingen.
Es will hier gesagt sein, daß unter vielen Menschen die Meinung verbreitet ist, daß die Pflanzen und
Tiere keine Sprache hätten. Das ist nun freilich insofern wahr, als die Sprechweise dieser Geschöpfe
der unsrigen nur schwer zu vergleichen ist, sie reden gewiß nicht auf dieselbe Art miteinander, wie
Menschen es tun. Aber daraus darf niemand zu Recht den Schluß ableiten, daß alle diese Geschöpfe
sich nicht auf ihre Weise miteinander verständigten, ihre Sinne sind wohl anders beschaffen, als die
unsrigen, aber deshalb sind sie nicht weniger fein und fügsam, nicht weniger klar oder eindringlich.
So bedürfen die Pflanzen, um miteinander zu verkehren, des Windes oder ihres Duftes und vor allem
der Insekten, die einen großen und weitverzweigten Nachrichtendienst zwischen allen Blumen
versehen, die alle Ansprüche, Wünsche und Gedanken, ja sogar die feinsten und lieblichsten
Empfindungen, derer die Pflanzen fähig sind, auf wundervolle Art vermitteln.
Es hat in der Vergangenheit Zeiten gegeben, in welchen der Glaube der Menschen an die Sprache
und die Stimmen der Geschöpfe der Natur verbreiteter war, als es heute der Fall ist. Es muß daher
gekommen sein, daß vor Tausenden von Jahren die Menschen enger am Herzen der Natur lebten,
daß sie den Pflanzen dankbarer waren für ihre Früchte, den Tieren für ihre Dienste und den Wäldern
für das Obdach, das sie ihnen gewährten. So hörten sie in frommer Andacht auf die Stimmen ihrer
Wohltäter und lauschten auf das Rauschen der alten Linden. Sie vernahmen in der Stimme des
Baums, die Stimme der Vergangenheit und der Zukunft. Wir müssen uns wohl hüten, diese alte
Weisheit rasch als ein Zeichen des Aberglaubens zu verwerfen; alle, welche die Natur draußen
kennen, werden gerne gestehen, daß der Sonnenschein über weiten Wiesen oder das Rauschen der
Bäume im Wind das menschliche Herz ruhiger machen, besonnen und frei. Wer sähe aber die
Vergangenheit oder die Zukunft, oder auch die Sorgen der Gegenwart nicht mutiger und gerechter
an, wenn sein Herz einer solchen Freiheit teilhaftig geworden ist? Auf diese Art war zu manchen
Zeiten ein Band tiefen Einvernehmens zwischen der Welt der Menschen und der übrigen Geschöpfe
der Natur geschlungen, und es ist nur unser Verschulden, wenn wir verlernt haben, es zu erkennen.
Wenn ich euch nun so mancherlei aus dieser Welt erzähle, so übersetze ich alles, was ich gesehen
und gehört habe, in die Sprache der Menschen, bis ihr einmal selbst hinausgeht, um die Sprechweise
der Tiere und Pflanzen zu lernen, und wahrscheinlich werdet ihr dann mehr und Besseres erfahren,
als ich euch erzählen kann, denn es ist nun einmal so in der Welt bestellt, daß man von allem
Schönen, das man erlebt, das Beste nicht sagen, sondern nur empfinden kann.
Die meisten der wichtigen Ereignisse, die in diesem Buch erzählt werden, haben sich auf der
Waldwiese am Traulenbach abgespielt, dort wo die tausendjährige Linde an der Grenze der Felder
und des Laub‐ und Föhrenwaldes steht. Es ist ein von den Menschen fast ganz vergessener Ort, nur
im Frühling oder im Herbst kommt ein Landmann in die Nähe dieser Waldwiese, wenn er seine Äcker
besät oder pflügt, und alle Jahre vielleicht einmal ein Jäger mit seinen Hunden, aber nicht einmal das
ist ganz sicher.
So hatten die Tiere des Waldes, die Bäume, Pflanzen und Blumen auf der Waldwiese ein ruhiges
Leben auf ihre Art, das nicht von Menschen gestört wurde. Die meisten von ihnen kannten nur den
Wind, den Sonnenschein und den Regen, außer dem dunklen Erdboden, dem sie vertrauten. Sie
hörten wohl durch die Bäume oder Vögel von den Menschen, auch kam es vor, daß an schönen
Abenden die Linde aus ihrer an Erlebnissen reichen Vergangenheit erzählte, aber die wenigsten von
ihnen hatten den Menschen überhaupt jemals gesehen.
Zweites Kapitel ‐ Die Ankunft des Elfen
Es mochte nach der Zeitrechnung der Menschen zwischen Pfingsten und Ostern sein, als im Frühling
dieses gesegneten Jahres ein niegesehenes Ereignis die Bewohner der Waldwiese in Erregung und
Entzücken versetzte. Es war an einem unbeschreiblich hellen Sonnenmorgen, das Land duftete vom
Regen der Nacht, und die Frische war so beseligend im Licht, daß die Freude aller Lebendigen wie ein
einziger Jubel durch den Wald hallte. Über den Primeln in der Lichtung und über den blauen Sternen
der Leberblumen sang eine Grasmücke, sie war ganz in ihr Lied versunken, ihr Kopf war voll Hingabe