Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning
was dies für meine Aufgabe bedeutet. Ich weiß, dass es aus dieser Situation keinen Ausweg gibt. Ich habe nur eine Chance. Blitzschnell ergreife ich die Tür und versuche, sie zuzuwerfen. Dem Polizisten gelingt es, einen Fuß in die Tür zu stellen, bevor sie schließt. Mit zwei schnellen Schritten springe ich in das kleine Badezimmer und schließe ab. Mein Herz rast, mir wird schwindelig. Doch ich schenke all dem keine Beachtung. Mit zitternden Fingern ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche, während von draußen auf die Badezimmertür eingehämmert wird. Ich mache mir nichts vor. Mir bleibt nur wenig Zeit, bevor sie die Tür aufgebrochen haben werden. Ein Anruf kommt nicht infrage. Bis der aufgebaut ist, verstreicht kostbare Zeit. Außerdem wird zu dieser Zeit niemand rangehen. Schreiben dauert auch zu lange. Also bleibt nur eine Option. Ich öffne die App für Sprachnachrichten. Zum Glück habe ich das Handy gleich nach meiner Ankunft mit dem WLAN des Hotels verbunden.
»Dies ist eine Nachricht für Yana«, beginne ich hastig auf Französisch.
Mit einem Blick auf die Tür wird mir klar, dass das Handy – und damit die Nachricht – der Polizei in die Hände fallen wird. Also bediene ich mich einer anderen Sprache. Sekunden später gibt die Tür nach. Einen Moment lang starren der gut gekleidete Polizist und ich uns an.
»Er telefoniert!«, brüllt er und wirft sich auf mich.
In dem Moment, in dem ich auf »Senden« drücke, kollidiert sein Körper mit meinem. Das Handy wird mir aus der Hand geschleudert. Verzweifelt kämpfe ich gegen seinen Griff, doch es ist vergebens. Hilflos sehe ich zu, wie er das Telefon ergreift und in seiner Hosentasche verschwinden lässt. Ob es mir gelungen ist, meine Nachricht zu versenden? Er steht auf, zieht auch mich auf die Füße und zerrt mich aus dem Badezimmer, wo er mich den beiden uniformierten Polizisten übergibt. Sie legen mir Handschellen an, positionieren sich rechts und links von mir und geleiten mich aus dem Hotelzimmer zum Fahrstuhl.
Vor dem Hotel zwängen sie mich in einen schwarzen Peugeot mit abgedunkelten Scheiben und mobilem Blaulicht. Mir wird bald klar, wohin wir fahren: in die Préfecture de Police, den Hauptsitz der Pariser Justiz- oder Kriminalpolizei auf dem Quai des Orfèvres im 1. Arrondissement.
Sie schleppen mich in einen kahlen Raum und weisen mich an, auf der einen Seite eines schlichten Tisches Platz zu nehmen. Dann lassen sie mich allein. Ich warte und denke an meine Aufgabe. Immer wieder stelle ich mir die gleiche Frage: Wie konnten sie es herausfinden? Niemand außer einer Handvoll Eingeweihter wusste Bescheid. Und die sind über alle Zweifel erhaben.
Früher oder später wird jemand zu mir hereinkommen, um mich zu verhören. Dann werde ich mehr erfahren.
Ich versuche, mich zu entspannen, was mir jedoch kaum gelingt. Ich fühle, wie sich der Jetlag zunehmend bemerkbar macht. Nur das Adrenalin, die Angst, was nun mit mir passiert, hält mich wach. Wie lange werden sie mich hier warten lassen? Vielleicht hat das Vorspiel zum Verhör längst begonnen. Sie müssen bemerkt haben, dass ich müde bin.
Schließlich öffnet sich die Tür, und dieser Polizist tritt ein. In der Tür bleibt er stehen und zündet sich eine Zigarette an, was mir Gelegenheit gibt, ihn genauer zu betrachten. Er mag Mitte vierzig sein, ist etwas größer als ich und hat dunkles, ordentlich zurückgekämmtes Haar. Die Fliege, die er vorher getragen hatte, hat er inzwischen abgelegt und außerdem den obersten Knopf seines blütenweißen Hemdes geöffnet. Die mit Manschettenknöpfen versehenen Ärmel des Hemdes gucken ein paar Zentimeter unter den Ärmeln seines Jacketts hervor. Wer ist dieser Typ? Bei der Kleidung kann das kein normaler Polizist sein.
Eine ganze Weile starrt er rauchend an die Wand des Raumes. Schließlich wirft er den Zigarettenstummel zu Boden, tritt ihn aus und wendet sich mir zu. Er nimmt auf einem zweiten Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches Platz und guckt mir direkt in die Augen.
»Es war ein Fehler, nach Frankreich zu kommen, mein Freund«, bemerkt er, und sein Ton sagt mir deutlich, dass in diesem Augenblick niemand weiter davon entfernt ist, sein Freund zu sein, als ich.
Er täuscht sich. Ich musste für meine letzte Aufgabe nach Frankreich kommen. Gleichzeitig räume ich ein, dass irgendetwas falsch gelaufen sein muss, und frage mich zum wiederholten Mal, wie sie mich gefunden haben. Es ist mir ein Rätsel.
»OK, Rahul Milad Khalili«, sagt er, und sein Ton ist mit einem Mal schneidend. »Schluss mit dem Vorgeplänkel! Du weißt, wieso wir dich festgenommen haben?«
Er blickt mich durchdringend an.
Erwartet er wirklich, dass ich darauf antworte? Glaubt er, dass ich es ihm so leicht machen werde? Natürlich weiß ich es. Aber in meinem Kopf kreist immer die gleiche Frage: Woher wussten sie es?
Ich schüttele leicht den Kopf.
»Natürlich nicht.« Seine Stimme klingt geradezu sanft, doch der gefährliche Unterton entgeht mir nicht. Ich spüre die Bedrohung, die von ihm ausgeht. Das ist kein normaler Polizist. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Schweiß tritt auf meine Stirn.
»Dann fangen wir mit was Leichterem an«, fährt er fort. »Ich will wissen, was das für eine Nachricht war, die du da an diese Yana geschickt hast!«
Im Stillen danke ich ihm für die Bestätigung, dass meine Nachricht tatsächlich versandt wurde. Aber ich kann ihm ihren Inhalt unmöglich verraten. Die Nachricht ist meine einzige Chance.
»Könnte ich ein Glas Wasser bekommen?«, frage ich in der naiven Hoffnung, dass ihn das ablenken könnte. Es bedarf keiner Mühe, meiner Stimme einen matten Klang zu geben. Selbst diese paar Worte kosten mich wertvolle Energie, von der ich viel zu wenig habe.
Einen Moment lang ist es vollkommen still. Kurz erliege ich der Illusion, er könnte einfach so aufstehen und kurz den Raum verlassen, um meiner Bitte nachzukommen. Mein Kreislauf lässt mich einen Augenblick im Stich, mir wird schwindelig und ich schließlich kurz die Augen. Mit einem Mal spüre ich eine plötzliche Bewegung im Raum. Instinktiv zuckt mein Körper zusammen, dann trifft mich seine Ohrfeige. Sie kommt so unerwartet, dass ich fast vom Stuhl falle. Mein Herz schlägt noch schneller, ich spüre den Schweiß unter meinen Armen. Kalter Hass durchzuckt mich.
»Antworte auf meine Frage!«, brüllt er mich an. Trotz des schmalen Tisches zwischen uns ist er viel zu nah und scheint die Kontrolle verloren zu haben. Was geht hier vor???
»Antworte!! Wenn du mir schon mein Leben versauen musstest, dann antworte jetzt wenigstens!!«
Was?? Sein Leben versauen?? Was meint er? Bei dem Gedanken, dass dieser Irre glaubt, eine persönliche Rechnung mit mir offen zu haben, bekomme ich Angst um mein Leben. Ich kann das Zittern nicht mehr unterdrücken. Doch wenn ich meinen Plan nicht gefährden will, muss ich durchhalten und darf nichts preisgeben.
Ich schließe die Augen nur kurz und schicke ein Gebet um Hilfe zum Himmel. Dann öffne ich die Augen wieder, um auf seinen nächsten Schlag vorbereitet zu sein, so gut es geht. Dieser kommt jedoch so heftig, dass er mich diesmal tatsächlich vom Stuhl wirft. Ich schmecke das Blut in meinem Mund, meine Wange brennt, mir wird schwarz vor Augen. Und dann geschieht ein Wunder: Mein Gebet wird erhört. Ich höre ein Geräusch von der Tür her. Jemand stürmt ins Innere. Eine Person oder zwei? Ich weiß es nicht. Ich bin zu benommen.
»Zum Teufel, hör auf!!«, schreit irgendwer. »Hör auf, du bringst ihn um!«
Der Polizist hat sich von mir ab- und der Tür zugewandt.
»Er hat mir mein Leben versaut!!«, höre ich ihn brüllen.
Am Boden liegend beobachte ich, wie er aus dem Raum gezogen wird. Ich bin vorerst gerettet. Und mit diesem Gedanken der Erleichterung verliere ich das Bewusstsein.
Erster Teil: Eröffnung
Als »Eröffnung« bezeichnet man den ersten Teil einer Schachpartie. Dieser dauert etwa zehn bis fünfzehn Züge und dient dazu, sich in Position zu bringen. Üblicherweise versuchen die Spielenden, das Zentrum des Bretts zu kontrollieren, Leitfiguren wie Läufer und Springer zu »entwickeln«, das heißt, sie aus ihrer Ausgangsposition herauszuziehen, damit sie später eine möglichst aktive Rolle spielen können,