Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning

Das schwarze Geheimnis der weißen Dame - Kolja Menning


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ab und begab sich in der Küche an die Arbeit. Es war Wochenende und schon eine Ewigkeit her, seit er Julie die kleine Freude eines netten Abendessens gemacht hatte. Hühnchen mit Tomaten und Zwiebeln in einer Oliven-Sahne-Soße. Dazu gebratene Zucchini und frisches Baguette. Julie und Claire würden sich freuen. Und als es nur Sekunden, nachdem er fertig geworden war, an der Wohnungstür polterte und Frau und Tochter gleichzeitig hereinkamen, war Jean-Baptiste sich sicher, dass dies der Auftakt zu einem perfekten Abend war.

      »Was riecht denn hier so gut?«, hörte er Claire rufen.

      Jean-Baptiste lächelte.

      »Was ist denn hier los?«, hörte er Julie gleich darauf sagen. Sie war zuerst in die Küche gegangen, die zugegebenermaßen noch die Spuren des kreativen Kochens aufwies.

      Jean-Baptiste schloss die Augen und atmete tief durch. Er setzte ein Lächeln auf und trat aus dem Wohnzimmer in den winzigen Flur, von dem aus man in das Badezimmer, in die Küche, ins Wohnzimmer und in Claires kleines Zimmer gelangte.

      »Hallo Papa«, sagte Claire lächelnd und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

      »Hallo meine Große«, entgegnete Jean-Baptiste und schloss seine Tochter in die Arme. Claire war fünfzehn – und Jean-Baptistes ganzer Stolz. Sie war fröhlich, intelligent und, was das Wichtigste war, sie war der einzige Mensch auf der Welt, der Jean-Baptiste das Gefühl gab, dass sein Leben einen Sinn hatte. In bangen Momenten fragte sich Jean-Baptiste, wie lange das noch anhalten würde.

      »Was liest du denn da?«, fragte er mit einem Blick auf ein Buch, das seine Tochter in der Hand hielt.

      »Der Herr der Ringe«, antwortete Claire.

      »Immer noch?«

      »Zweiter Band. Ich habe noch einiges vor mir.«

      »Ah«, machte Jean-Baptiste. Richtig, da waren mehrere.

      Er machte sich im Gedächtnis eine Notiz, im Internet bei Gelegenheit eine Zusammenfassung zu lesen, und hoffte, dass seine Tochter das Gespräch jetzt nicht fortführen würde. Julie »rettete« ihn aus der Situation.

      »Was ist denn in der Küche passiert?«, fragte sie vorwurfsvoll, und Jean-Baptistes Lächeln verschwand. Vielleicht war es etwas vorschnell gewesen, einen perfekten Abend mit Frau und Tochter zu erwarten.

      Er bemühte sich, seinen Ärger herunterzuschlucken und sagte ruhig:

      »Ich hab’ Essen für uns gemacht.«

      »Aber ich treff’ mich doch heute Abend mit Anne-Sophie!«, rief Julie aus. »Das weißt du doch!«

      Jean-Baptiste kratzte sich am Kopf. Julie hatte es tatsächlich erwähnt. Anne-Sophie, die Nervensäge. Hatte sich von ihrem Mann scheiden lassen, weil dieser ein etwas zu großes Interesse an anderen Frauen an den Tag gelegt hatte – nur dass Anne-Sophie das Alleinsein nicht gut vertrug und so ständig Julie anrief.

      »Also machen wir uns einen netten Abend, nur wir zwei?«, sagte er hoffnungsvoll zu Claire, während Julie im Badezimmer verschwand.

      »Aber ich schlaf’ doch heut’ bei Valérie«, sagte Claire unglücklich, »und Mama wollte mich bei Valérie absetzen.«

      Jean-Baptiste seufzte. Definitiv kein perfekter Familienabend.

      »Beeil dich, mein Schatz!«, wandte Julie sich, aus dem Badezimmer erscheinend und jetzt einen Duft von Parfum verströmend, an Claire. »Wir müssen los!«

      Claire gab ihrem Vater erneut einen Kuss, und dann waren Mutter und Tochter schon wieder zur Tür hinaus.

      »Ich bewahr’ dir was für morgen auf!«, rief Jean-Baptiste ihnen hinterher, doch er war nicht sicher, ob seine Tochter ihn noch hörte.

      Jean-Baptiste schenkte sich ein Glas Rotwein ein und bediente sich an Fleisch, Zucchini und Brot. Dann fiel ihm auf, dass er kein Wasser auf den Tisch gestellt hatte, und er ging in die Küche, um welches zu holen. Auf dem Weg kam er an dem Schrank vorbei, in dem er seine Aktentasche abgestellt hatte, und zögerte. Warum eigentlich nicht? Er holte die »Akte« aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Bevor er sie aufschlug, begann er allerdings zu essen. Er war ein guter Koch – und genoss es auch zu essen, was an seiner Taille mit den Jahren nicht ganz spurlos vorübergegangen war.

      Jean-Baptiste nippte an seinem Rotwein und seufzte. Wenn man bedachte, dass die Flasche lediglich ein paar Euro gekostet hatte, war der Wein gar nicht so schlecht. Das Gute an diesem billigen Wein war, dass er die gewünschte Wirkung nicht verfehlen würde, was ausgesprochen hilfreich dabei sein würde, die Enttäuschung über den verdorbenen Abend zu vergessen und anschließend besonders fest zu schlafen. Was die Flasche zu Jean-Baptistes bester Freundin machte.

      Dank Michel Moncourt trank Jean-Baptiste wahrscheinlich noch nicht einmal allein, sondern in der Gesellschaft einer ausgesprochen nackten und angemessen vollbusigen Blondine.

      Jean-Baptiste kippte ein weiteres Glas Rotwein hinunter. Herrlich! Es war erst sein drittes Glas und er begann schon zu spüren, wie sich in seinem Kopf etwas tat.

      Wenn ich besonderes Glück habe – und das hab’ ich heute eindeutig verdient! – is’ da drin vielleicht sogar mehr als nur eine Blondine, dachte Jean-Baptiste.

      Womit der Begriff »Akte« auch wieder zutreffen würde – nur eben als Plural des Wortes »Akt«.

       Ein ausgesprochener Schelm, dieser Michel Moncourt!

      Jean-Baptiste trank ein weiteres Glas und schenkte sich gleich wieder nach, sodass nur noch ein Schlückchen in der Flasche übrigblieb. Sein Hunger war gestillt. Er gönnte sich noch ein Gläschen Ricard und fühlte sich dann – körperlich und gemütsmäßig – bereit für die »Akte«.

      Er schlug den Deckel auf.

       Dreifacher Mord an Sima und Gustave Goldberg und einer dritten nicht identifizierten Person.

       Paris, 75013

       24.08.1996

      

      »Ja, ja«, sagte Jean-Baptiste lauter, als er es vermutlich in vollkommen nüchternem Zustand getan hätte, »sicher.«

      Eins musste man Moncourt lassen. Er hatte sich Mühe gegeben und auch ein Deckblatt erstellt, das denen von echten Polizeiakten nicht unähnlich war.

      Jean-Baptiste blätterte weiter. Erstaunlicherweise war da Text. Wie in einer ordentlich geführten Polizeiakte. Er hatte seine liebe Mühe, einen Sinn darin zu erkennen und verspürte einen Anflug von Enttäuschung. Verwirrt blätterte er zurück zur ersten Seite. Als sein Blick erneut auf den Namen vor seinen Augen fiel, stutzte er. Der Name Goldberg sagte ihm etwas. Nur was? War das nicht irgend so ein Komponist gewesen? Nein, Goldberg-Variationen! Das war’s. Von Johann Sebastian Bach oder irgendeinem anderen dieser vielen deutschen Komponisten. Oder war’s doch Haydn gewesen?

      Egal, entschied Jean-Baptiste.

      Jedenfalls war er irgendwann mal mit Julie und Claire in einem Konzert gewesen, wo diese Goldberg-Variationen gespielt worden waren. Das hatte er jedoch in eher guter Erinnerung. Etwas langweilig vielleicht, aber nicht unangenehm. Der Name Goldberg regte bei Jean-Baptiste definitiv ein Gefühl des Unwohlseins. Und mit einem Mal glaubte er, es zu wissen. Wie hatte er das verdrängen können? Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte und er zu schwitzen begann. Er schlug die Akte wieder zu und starrte auf das Datum unter dem Aktenzeichen. Kein Zweifel. Dieser Vollidiot Moncourt hatte ihm ein verbotenes Dossier gegeben.

      Jean-Baptiste begann bereits, den Exzess an Rotwein zu bereuen. Hastig schlug er Seite um Seite um und bemühte sich, trotz des schwerer werdenden Kopfes konzentriert zu bleiben. Alles professionell angelegt und sorgsam sortiert, und zwar von einem Hauptkommissar Fabrice Mellier, den Jean-Baptiste persönlich kannte. Allerdings hatte Mellier sich vor ein paar Jahren zur Ruhe gesetzt.

      Hastig blätterte Jean-Baptiste zurück zur ersten Seite. Da stand es. Dreifacher Mord. Goldberg. Und das Datum der Tat. 24.08.1996.


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