Das schwarze Geheimnis der weißen Dame. Kolja Menning
schrie Jean-Baptiste fast. »Das ist mein Fall Goldberg!«
Aber wieso hatte Moncourt ihm diese Akte gegeben? Die Akte war für Jean-Baptiste tabu. Ohne auf eine plausible Antwort zu kommen, blätterte Jean-Baptiste wieder in den Papieren. Er wusste ja, was damals geschehen war. Er war dabei gewesen. Aber die Akte hatte er nie auch nur in den Händen gehalten. Weiter hinten befanden sich Fotos vom Tatort. Erst das Haus von außen. Ein paar zerstörte Fenster und eine von Ruß geschwärzte Fassade. Die Erinnerung an diesen verhängnisvollen Tag kam langsam zurück. Es hatte in der Wohnung gebrannt. Dann Fotos aus der Wohnung. Von innen hatte Jean-Baptiste die Wohnung damals nicht gesehen. Jean-Baptiste bekam eine Gänsehaut, als er die Fotos der Opfer betrachtete. Erst zwei zur Unkenntlichkeit verkohlte Körper. Das Einzige, was man ausmachen konnte, war, dass es sich um einen kleinen und einen großen Körper handelte. Und dann das dritte Opfer. Sima Goldberg, deren Körper vom Feuer verschont geblieben war, weil er sich in einem anderen Zimmer befunden hatte und die Feuerwehr den Brand hatte löschen können, bevor er sich auch dorthin ausbreitete.
Mit einem Mal wusste Jean-Baptiste, was Moncourt mit seinen Andeutungen gemeint hatte. Er hatte ihn in gewisser Weise doch richtig eingeschätzt, und es hatte eindeutig nichts mit der Verbindung zwischen Jean-Baptiste und diesem Fall zu tun.
Perverses Schwein, dachte Jean-Baptiste.
Die Akte enthielt nicht weniger als zwanzig Hochglanzaufnahmen von Sima Goldberg. Auf dem ersten Foto, wie man sie am Tatort ihrer Ermordung vorgefunden hatte. Auf dem Rücken auf einem großen Bett liegend und mit einer hellbraunen Decke bis zum Hals zugedeckt. Nur der Kopf war zu sehen. Sie hatte dunkle kakaofarbene Haut, sinnliche Lippen, typisch afrikanisches kurzes Haar und einen schlanken Hals. Ihre Augen waren geschlossen, als schliefe sie lediglich. Es sah geradezu friedlich aus. Die folgenden Fotos zeigten sie ohne die Decke. Sie war vollständig nackt – und perfekt bis auf das Einschussloch ein paar Zentimeter unter ihrer linken Brust. Sie war nicht besonders groß, schlank und wunderschön. Selbst tot hatte sie etwas, das Jean-Baptiste extrem erotisch fand. Und das hatte nichts mit dem Rotwein zu tun. Er starrte auf das Bild, unfähig, den Blick abzuwenden. Eine schwarze Marilyn Monroe – nur schlanker. Jean-Baptiste spürte, wie er eine Erektion bekam, und musste lachen.
Wie erbärmlich bist du eigentlich?, fragte er sich selbst. Sitzt zu Hause, besäufst dich mit ’ner billigen Flasche Rotwein und geilst dich an ’ner nackten Toten auf!
Doch trotz der Selbstkritik war er unfähig, die Augen von Sima Goldberg abzuwenden. Hastig blätterte er durch die anderen Fotos. Da waren Nahaufnahmen ihres Gesichts, ihres Geschlechts und von der von der Kugel geschlagenen Wunde. Dann Fotos ihrer Rückansicht. Jean-Baptiste konnte sich nicht dagegen wehren festzustellen, dass Sima Goldbergs Rückansicht ebenso makellos war. Der schlanke Rücken endete in einem höchst wohlgeformten Gesäß, auf dem sich eine kleine, mit weißer Farbe gestochene Tätowierung befand, ohne dass sich jedoch erkennen ließ, was da abgebildet war.
Jean-Baptiste schlug die Akte zu, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er mit diesem fast umgekippt wäre, und atmete ein paar Mal tief durch. Er bemühte sich, wieder vollständige Kontrolle über seine zitternden Hände zu bekommen. Verdammter Alkohol! Er hatte Lust, sich eine Zigarette anzuzünden, um sich zu beruhigen. Aber Julie hatte durchgesetzt, dass in der Wohnung nicht geraucht wurde, und Jean-Baptiste beschloss, sich daran zu halten. Schließlich war Jean-Baptiste ein anständiger Ehemann – was die Beziehung zu seiner Frau nicht daran gehindert hatte, über die Jahre zu leiden. So gesehen, sagte sich Jean-Baptiste, war die unerwartete Abwesenheit von Ehefrau und Tochter eigentlich nicht sonderlich zu beklagen. Es war ja nicht so, als wäre hemmungsloser Sex mit Julie zu erwarten gewesen. Und mit Claire konnte er noch das ganze Wochenende etwas unternehmen. Wenn sie wollte.
Heute Abend hatte er jedenfalls erst einmal seine Ruhe. Es war Freitag. Er hatte gut gegessen, eine Flasche Rotwein fast geleert, Fotos der schönen Sima Goldberg gesehen, und es war davon auszugehen, dass er im Fernsehen irgendein mittelmäßiges Fußballspiel finden würde. Alles in allem hörte sich das nach einem recht gelungenen Abend an! Es gab also nicht den geringsten Grund, sich zu beklagen.
Als er sich von seinem Stuhl erhob, brauchte er einen Moment, um sich in aufrechter Haltung zu stabilisieren. Sein Blick fiel auf die Pfütze Rotwein, die noch in der Flasche verblieb. Er würde sie, nachdem er abgeräumt hatte, vor dem Fernseher direkt aus der Flasche trinken.
Er räumte ab, bis schließlich nur die Akte auf dem Tisch verblieb. Eine ganze Minute starrte Jean-Baptiste bewegungslos auf den Stapel Papier. Und mit einem Mal ergriff eine vollkommen verrückte Idee Besitz von ihm. Es war die Schuld des Rotweins. Es konnte nur so sein! Wäre er nur einigermaßen klar im Kopf gewesen, wäre ihm so ein Schwachsinn niemals in den Sinn gekommen. Doch da war sie, die fixe Idee, und ließ sich nicht abschütteln: Was, wenn er heute mal alles anders machte? Was, wenn er ab heute alles anders machte?
Unsinn! So was gab es in Filmen! Irgendwelche Versager, die aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen ein sogenanntes Schlüsselerlebnis haben, daraufhin eine Hundertachtziggraddrehung vollziehen, zu irgendwelchen Superhelden mutieren und die Welt retten. Aber das gab es eben nur in Filmen. Zum Beispiel in Avatar. Toller Film. Irgend so ein hirnloser Marine ohne funktionierende Beine schaffte, was all die hochintelligenten Wissenschaftler nicht schafften. Oder Forrest Gump. Da fing’s auch mit den Beinen an. Erst diese komischen Gehhilfen – und plötzlich wurde er der absolute Superflitzer. Forrest Gump war noch besser als der Typ in Avatar! Der Kerl war so dämlich, dass er keine Zeit mit Denken verschwendete, weil er fast gar nicht denken konnte. Genau darin schien der entscheidende Unterschied zu liegen. Forrest Gump handelte!
Und mit einem Mal – und der Rotwein mochte dabei seine Rolle spielen – fand Jean-Baptiste die Geschichte vom Versager, der zum Helden wird, ausgesprochen attraktiv. Denn dass er selbst über die Jahre zu einem ziemlichen Versager geworden war, gestand er sich in einsamen Momenten der Wahrheit durchaus ein. Und jetzt hatte ihm das Schicksal eine einzigartige Gelegenheit geschenkt und ihm die Akte zu dem verteufelten Fall Goldberg in die Hände gespielt.
»Dieser Tag ist ein bedeutender Tag«, lallte er feierlich. »Freitag, 13. Mai 2011. Man beachte das Datum! Und jetzt los!«
Er zog sich aus. Im Badezimmer stellte er sich in die Duschwanne, und drehte voll auf – und zwar das kalte Wasser. Ganze zwei Minuten blieb er bewegungslos unter dem Wasserstrahl stehen. Als er das Wasser schließlich abstellte, hatte er eine Gänsehaut und fror erbärmlich. Doch er fühlte sich deutlich frischer. Den Rest Rotwein goss er weg und setzte sich dann im Wohnzimmer mit der Akte in einen Sessel. Er würde diesen Goldberg finden! Das würde seine Karriere nicht wieder reparieren, aber mit dem Bewusstsein, dass dieser Schweinehund seiner gerechten Strafe zugeführt würde, würde es sich viel leichter leben lassen. Das stand fest.
Marie Bouvier.
An jenem Freitagnachmittag war die junge Kommissaranwärterin Marie Bouvier gerade dabei, die Dokumentation zu einem Fall abzuschließen, als ihr Diensthandy klingelte.
Unbekannter Teilnehmer, kündigte das Display an.
»Bouvier«, meldete sie sich.
»Guten Morgen, Frau Bouvier«, sagte eine höfliche Männerstimme, »mein Name ist Philippe Delacourt. Ich hoffe, mein Anruf kommt nicht ungelegen?«
Philippe Delacourt? Der Name kam Marie Bouvier bekannt vor, sie konnte ihn jedoch nicht zuordnen.
»Keineswegs«, antwortete sie.
»Gut!«, sagte der Anrufer, »Francis Bertillon hat mir Ihre Nummer gegeben. Er ist ein Freund von mir.«
Hauptkommissar Francis Bertillon war Maries Vorgesetzter. Marie mochte ihn. Er war auch nach dreißig Jahren im Dienst noch ein leidenschaftlicher Polizist, er war kompetent und wollte Marie nicht an die Wäsche. Eine Kombination, die Marie sehr schätzte.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich hoffte, Sie könnten mir in einer persönlichen Angelegenheit helfen.«
»Wie das?«